Tanztheaterstück “you will be removed“ am Staatstheater Kassel
“Ich will doch nur ein bisschen Platz“
Mit seinem neuen Stück “You will be removed“ widmet sich Tanzdirektor Johannes Wieland dem Thema Flucht. Mit einer ungeheuren Fülle an Bildern und Ausdrucksweisen erntet die Choreografie begeisterten Applaus bei der Premiere im Staatstheater Kassel.
Über dem Boden eines leeren Schwimmbeckens sind Alltagsgegenstände, wie ein umgekippter Einkaufswagen, einzelne Schuhe, weiße Plastikstühle oder zusammengeknüllte Abdeckfolie, verteilt. In der Mitte dieses offenen Raumes scheinen sich zwei Männer, eine Topfpflanze zwischen sich, einen privaten Raum geschaffen zu haben. Doch kann in diese Umgebung so etwas wie Gemütlichkeit entstehen? Die billigen Plastikstühle, auf denen die beiden Platz genommen haben, der Wohlstandsmüll und die Spuren einer unruhigen Vergangenheit um sie herum, lassen dies nicht vermuten.
Im Hintergrund rutschen Menschen leblos die hohen Treppen hinunter, während die Tänzerin Zoe Gyssler mit Schwimmflügeln an den Armen und Schwimmbewegungen ausführend, den leeren Pool durchschreitet. “Ich will doch nur ein bisschen Platz, um meine Bahnen ziehen zu können. Sicherheit?“. Der rhetorischen Frage folgt ein hysterisches Lachen. Noch während sie versucht, ruhig ihre Bahnen zu ziehen, entbrennt zwischen den beiden Männern ein Streit, der schnell äußerst körperlich wird. Sicherheit existiert an diesem Ort nicht.
So beginnt Wielands sehenswertes Tanzstück, bei dem er sich gemeinsam mit seinem Ensemble dem Thema Flucht widmet. In den folgenden 75 Minuten spüren die Tänzerinnen und Tänzer den verschiedenen Facetten von Flucht und deren Folgen nach. Selbstverständlich bleibt Wieland nicht bei tagespolitischen Fragen stehen, sondern wendet den Blick nach innen und spürt der Frage nach, was in der Seele und im Herzen des Individuums geschieht, wenn es durch Extremerfahrungen traumatisiert ist, die Selbstbehauptung zur Lebensmaxime geworden ist, Hoffnungen und Sehnsüchte unerreichbar erscheinen, Entfremdung und Einsamkeit das eigene Leben bestimmen und nur noch die unbestimmte Flucht in Richtung ungewisser Zukunft bleibt.
Auf der Bühne im Staatstheater Kassel erleben die Zuschauer Menschen am Abgrund – bewegend in einer Szene von der großartigen Gotaute Kalmataviciute dargestellt, die auf einem Sprungbrett stehend betont, dass es ihr physisch wie psychisch gut gehe, doch der Abgrund vor ihr unausweichlich erscheint. Der Zuschauer erlebt Menschen, die durch das Leben taumeln und versuchen irgendwie ihr Schicksal zu bewältigen. Es sind Gestrandete, die scheinbar zufällig an dem gegenwärtigen Ort angekommen sind – als Fremde in einer fremden Welt. Hier bestehen durchaus Parallelen zu den Tänzerinnen und Tänzern, die im realen Leben aus verschiedensten Teilen der Welt stammen und die es für den Moment, zumindest für diese Spielzeit, – wenn auch freiwillig – nach Kassel verschlagen hat.
Momme Röhrbein, der in der Vergangenheit bereits mit namhaften Regisseuren wie Katharina Thalbach, Matthias Hartmann oder Leander Haußmann zusammengearbeitet hat und in der vergangenen Spielzeit für das Bühnenbild des Tanztheaterstücks “Aurora“ in Kassel verantwortlich zeichnete, ist ein exzellentes Bühnenbild gelungen. Er verortet “you will be removed“ in ein leeres Schwimmbecken, das augenblicklich eine suggestive Wirkung ausstrahlt und zahlreiche Assoziationen weckt.
Die bemerkenswert durchdachte Bühne ermöglicht zahlreiche Varianten für Auf- und Abgänge, weist im Hintergrund eine Empore auf und bietet mit einem erhöhten Sprungbrett vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten. Die Tänzerinnen und Tänzern verstehen es, den gesamten Raum zu nutzen. Sie rutschen die Treppen hinunter, tauchen über die seitlichen Leitern auf, rennen die Poolwände hinauf, springen vom Sprungbrett in die Tiefe oder umklammern es Rettung suchend von unten.
Das dynamische Stück bietet mehrere tänzerische Höhepunkte, wie etwa die kraftvollen Auftritte der einstigen Kunstturnerin Zoe Gyssler, ein wunderschönes Duett zwischen Shafiki Sseggayi und Valentine Yannopoulos, das zwischen Zärtlichkeit und Feindseligkeit pendelt, ein mitreißendes Solo von Luca Ghedini, eindrucksvolle Szenen der exzellenten Gotaute Kalmataviciute, die durch ihre ungeheure Präsenz und Fokussierung beeindruckt und dazwischen immer wieder sehenswerte Phasen, in denen das gesamte Ensemble sein Können zeigt.
“You will be removed“ lautet der Titel des Stückes. Wir sind ersetzbar. Das Leben ist schnell und flüchtig, angenommene Sicherheiten scheinen sich aufzulösen. Wieland und sein Ensemble nehmen auch Themen wie Konkurrenz und Verdrängung in den Fokus und zeigen was es bedeutet seinen Platz in dieser Welt zu finden oder zu behaupten, um “in Ruhe seine Bahnen ziehen zu können.“ In dem Kinderspiel “Reise nach Jerusalem“ entbrennt, unter Aufhebung allgemein anerkannter Regeln, der Kampf um den freien Stuhl.
Johannes Wieland gelingt es in seiner Choreografie das Ensemble sowohl gemeinsam als auch in unterschiedlichsten Konstellationen zusammenwirken zu lassen und dabei dennoch jedem einzelnen Akteur ausreichend Raum zu geben, um seine Individualität, seine Biografie, sein Inneres wie sein Äußeres einzubringen. Zum Ende des Stücks vereint er das Ensemble zu einem mitreißenden Gruppentanz, bevor das Licht erlischt und die Tänzer im Dunkeln ihre Bahnen ziehen… weiterhin auf der Suche nach ihrem Platz.
In dem etwa 75 Minuten langen Stück entstehen ungeheuer viele Bilder auf der Bühne, zahlreiche Assoziationen werden geweckt und unterschiedlichste Geschichten erzählt. Wieland nutzt dabei verschiedenste Ausdrucksformen, die dem modernen Tanztheater, und das ist dessen Stärke, zur Verfügung stehen. Auf der Bühne wird gesprochen, gesungen, geschauspielert und natürlich auch getanzt. Für regelmäßige Besucher des Kasseler Tanztheaters hält das Stück zudem auch einige Zitate vergangener Produktionen bereit.
Tosender Applaus hallt durch das Schauspielhaus, als die 75-minütige Reise ihr Ende gefunden hat.