“Götterspeise“ (Noah Haidle) am Staatstheater Kassel
Wasser, Farbstoff, Aromen und Zucker
- 10/05/2016, 11:46 Uhr
Mit dem Stück “Götterspeise“ des US-amerikanischen Autors Noah Haidle eröffnete das Staatstheater Kassel die neue Spielzeit. Haidle erzählt den Leidensweg einer jungen Köchin, die sich voller Leidenschaft und Enthusiasmus bemüht ein “guter Mensch“ zu sein und tragisch endet.
“Ihr Mund. Immer mit einem kleinen Lächeln in den Winkeln. Wie ich.“ Constant weist Tom, der seine Vaterschaft leugnet, auf die Ähnlichkeit, die sie bei der gemeinsamen Tochter zu erkennen glaubt, hin. “Du bist immer so fröhlich“, bestätigt ihre Freundin Sylvia.
Constant ist eine Frau voller Tatkraft und Liebe, bestrebt jedem zu helfen, ihren Mitmenschen Hoffnung zu verleihen und sie glücklich zu machen.
Fröhlich und voller Energie steht Constant an ihrem ersten Arbeitstag als Köchin in der Schulkantine, wo Lehrer und Schüler zu Constants Unmut eine uninspirierte und wenig nahrhafte Mahlzeit sowie zum Nachtisch Götterspeise serviert bekommen. Die engagierte Frau überarbeitet kurzerhand den Speiseplan und ersetzt den Einheitsfraß durch schmackhafte, hochwertige Gerichte. Doch obwohl sie für ihre Arbeit, wie auch für ihr stets offenes Ohr, wenn es um die Sorgen ihrer Mitmenschen geht, geschätzt wird, verliert sie aufgrund von betriebsbedingten Sparmaßnahmen ihre Anstellung.
Nach der erfolgreichen Uraufführung von “Lucky Happiness Golden Express“ zum Auftakt der Spielzeit 2013/14 sowie der Produktion “Smokefall“ im folgenden Jahr, setzt das Staatstheater Kassel seine Zusammenarbeit mit dem Autor Noah Haidle fort und eröffnet die Spielzeit 2016/2017 erneut mit einem Stück des jungen US-Autoren. “Deutlicher kann ein Intendant seine Zuneigung wohl nicht zeigen,“ hebt Thomas Bockelmann, Intendant am Staatstheater Kassel, unumwunden seine Wertschätzung gegenüber Noah Haidle hervor.
Dessen Arbeiten stoßen in Deutschland grundsätzlich auf beträchtliches Interesse, so wurde “Götterspeise“ nicht in den USA, sondern zu Beginn des Jahres am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt und im vergangenen Jahr wählten befragte Kritiker Noah Haidles Stück “Alles muss glänzen“ in der Fachzeitschrift “Theater heute“ zum besten ausländischen Stück.
Mit “Götterspeise“ hat der Theater- und Drehbuchautor erneut ein zwischen Komödie und Tragödie pendelndes Stück verfasst. Mit exakten, messerscharfen Dialogen und einer erstaunlichen Leichtigkeit erzählt er eine tragische Geschichte. Wie in vielen seiner Stücke wohnt den Figuren bei aller Heiterkeit, die sie beim Zuschauer auslösen mögen, eine tiefe Traurigkeit inne, scheint ihnen doch allen etwas im Leben zu fehlen, wonach sie sich sehnen. Im Gegensatz zu Stücken wie “The Homemaker“ oder “Smokefall“ fehlen in “Götterspeise“ weitestgehend die surrealen Momente. Es ist ein äußerst reales Stück, das durchaus politisch gelesen werden kann und zu aktuellen gesellschaftlichen Tendenzen in den USA, aber auch in Europa, Stellung bezieht.
Die Hauptfigur Constant – zu der Haidle durch Linda, einer realen Person, der er einst in der Collegekantine seiner Heimatstadt begegnet ist, inspiriert wurde – nimmt jede ihrer Aufgaben, die sie von der Schulkantine in einen Imbissladen, anschließend in die Psychiatrie und schließlich in die Todeszelle führen, mit Euphorie und den allerbesten Absichten in Angriff. Sie lässt sich von ihrer hoffnungsvollen, empathischen Haltung nicht durch Kränkungen, Enttäuschungen und Demütigungen, die sie wiederholt erfahren muss, abbringen, sondern steigert sich zunehmend in einen geradezu pathologischen Fanatismus.
Das Thema Essen spielte bereits in vergangenen Stücken aus Haidles Feder eine Rolle. Sei es das monotone Kung Pao-Huhn in “Lucky Happiness Golden Express“, die Erde und Papier essende Tochter in “Smokefall“ oder die Suche nach dem perfekten Flunder-Rezept der emsigen Hausfrau in “Homeless“. Nun stellt Haidle das Motiv des Kochens in das Zentrum der Handlung. Constant möchte durch die von ihr zubereiteten Mahlzeiten, durch ausgewählte Zutaten, perfekt abgestimmte Rezepte sowie eine ansprechende Anrichteweise, die Menschen nicht rasch und mit reduziertem Aufwand satt machen, was kennzeichnend für Essen in Kantinen und Imbissen ist, sondern sie möchte ihnen durch die von ihr zubereiteten Mahlzeiten Liebe zukommen lassen.
Erneut gelingt es Haidle mit “Götterspeise“ eine Geschichte klug aufzubauen, Bilder zu schaffen, die gleichzeitig Hoffnung und tiefe Traurigkeit heraufbeschwören, inspirierende Schauplätze, an denen die Handlung verortet ist, zu finden und das Publikum zu berühren. Wenn ein Theaterstück, dank pointierter Dialoge sowie skurriler Charaktere, zahlreiche Lacher beim Publikum hervorruft und im nächsten Augenblick die Sitznachbarin zum Taschentuch greift, um sich die Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen, haben der Autor sowie der Regisseur offenkundig einiges richtig gemacht.
Für die Inszenierung zeichnet Thomas Bockelmann, der bereits in der Vergangenheit die aufgeführten Haidle-Stücke in Kassel inszeniert hat, verantwortlich. Bewusst habe er in das tragische, düstere Stück, unterhaltende und leichte Momente, wie die von Victor Adrian Rottier choreografierten Tanzszenen, eingefügt. Dahinter stecke die Absicht, die tragischen Momente der Handlung, umso eindrücklicher wirken zu lassen. Eine inszenatorische Idee, die, wie die Publikumsreaktionen zeigen, aufgeht.
Etienne Pluss hat ein reduziertes, wirkungsvolles Bühnenbild gestaltet. Die Umgebung wirkt künstlich und nüchtern und kontrastiert somit Constant, die in diesem anonymen Umfeld Liebe und Zuneigung verströmen möchte. Die Decke senkt sich zu Beginn jeder neuen Station, die Constant durchläuft, mehr und mehr ab, womit sich die anfängliche Weite zunehmend in eine geradezu klaustrophobische Situation verwandelt. Constants Entfaltungsmöglichkeiten schwinden und sie wird von den gesellschaftlichen Realitäten förmlich erdrückt.
Caroline Dietrich verkörpert jene Constant. Eine anspruchsvolle Aufgabe für die Schauspielerin, denn sie verlässt zu keinem Zeitpunkt die Bühne, hat viel Text zu bewältigen und muss zu jeder Sekunde präsent sein, da das Stück gänzlich auf die Hauptfigur ausgerichtet ist. Caroline Dietrich bewältigt diese Anforderungen mit Bravour, präsentiert ein Tableau von Emotionen und wechselt innerhalb weniger Augenblicke ihre Gefühlszustände. Sie ist hoffnungsvoll, verletzt, enthusiastisch, erniedrigt, erotisch, aggressiv, komisch, fürsorglich, gesprächig und einsam.
Die weiteren Figuren sind weitaus wenig differenziert ausgestaltet, weisen keinerlei Entwicklungen auf und dienen letztlich einzig dazu, die Hauptfigur auf ihrem Leidensweg zu illustrieren. Die daraus resultierenden Herausforderungen meistern die DarstellerInnen, die in wechselnden Rollen auftreten, gekonnt. Pointiert stellen sie ihre jeweiligen Charaktere, die ihren Reiz dadurch erhalten, dass die dargestellten Persönlichkeiten bestimmte Verhaltensweisen, Stellungen oder Beziehungsmuster beibehalten, dar.
Bernd Hölscher als Schulleiter, Chef einer Imbissketten-Filiale, Psychiater und Wärter im Todestrakt kann besonders viele Lacher verbuchen. Christina Weiser gelingt es ihre überaus unterschiedlichen Charaktere (von der affektierten Hausfrau über eine psychisch gestörte Patientin bis zur abgestumpften Strafgefangenen) mithilfe weniger Gesten eindeutig darzustellen und Michaela Klamminger brilliert durch eine bemerkenswert differenzierte Modulation, mit der alleine es ihr bereits gelingt, viele Eigenarten ihrer Figuren zu verdeutlichen.
“Ich wollte nur den Menschen helfen“, fasst Constant ihr Leben und ihre Bemühungen zusammen. Constant, die unerschütterlich an das Gute glaubt und die Welt zu einem besseren Ort machen möchte, scheitert letztlich an der Realität, an einer gleichgültigen und mitleidslosen Gesellschaft. Dieses darf, wie der Autor bestätigt, als Spiegel derzeitiger gesellschaftlicher Strömungen gedeutet werden.
Zum Schluss erlebt Constant noch einen vermeintlich glücklichen Moment, während sie einen letzten Becher Götterspeise löffelt, jene Mahlzeit, deren Name viel verheißt, die tatsächlich jedoch wenig Nahrhaftes und Genüssliches bietet. Wasser, Farbstoff, künstliche Aromen und Zucker – ein Sinnbild für Constants Dasein.