“ich bin du“ – das neue Tanztheaterstück von Johannes Wieland
Das Unbeschreibliche spürbar machen
Mit seinem neuen Stück “ich bin du“ widmet sich Tanzdirektor Johannes Wieland erneut einem komplexen Thema. Wie gewohnt macht er es dabei dem Publikum nicht leicht, erntet aber dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – begeisterten Applaus bei der Premiere im Staatstheater Kassel.
“I am he as you are he as you are me and we are all“, tönt John Lennons nasale Stimme aus den Lautsprechern des Kasseler Schauspielhauses. Ähnlich verworren wie in dem Beatlessong “I am the walrus“ geht es auch auf der Bühne zu, auf der sich Choreograf Johannes Wieland zusammen mit den Tänzerinnen und Tänzern des Staatstheaters Kassel dem Thema “Identität“ zu nähern versucht. Das “Ich“ wird dabei zerlegt und beleuchtet. Es wird nach seiner Essenz gesucht. Was macht mich als Individuum aus? Das, was ich sein will oder gerade nicht sein will? Das, was andere in mir sehen? Lässt sich an meiner Außenwirkung ablesen, wie glücklich und zufrieden mein ICH ist? Wie entsteht überhaupt Identität?
Johannes Wieland scheut keine schwierigen Themen. Er nimmt den Zuschauer mit auf eine 70-minütige Reise auf der Suche nach dem ICH. Kennen wir nicht alle Momente, in denen wir mit dem eigenen ICH hadern? Wir wären gerne anderes… furchtloser, attraktiver, einflussreicher, ein Superstar, unbesiegbar. Derartige Gefühle und Stimmungen, die mitunter kaum in unser Bewusstsein dringen, kann das Tanztheater spürbar machen.
In einer beeindruckenden Szene verwandelt sich Shannon Gillen in einen Avatar. Sie schafft sich eine künstliche Person, einen Stellvertreter für das eigene ICH, jemanden der für sie handelt. Momente später tanzt gleich eine ganze Gruppe von Avataren in Science-Fiction-artigen Kostümen über die Bühne. Einmal in die Haut des anderen Geschlechts schlüpfen? Tanztheater macht es möglich. Während eines schönen Duetts nimmt René Alejandro Huari Mateus für einen Moment die Identität von Breanna O`Mara an.
Wie bereits bei zahlreichen Tanzproduktionen in der Vergangenheit schuf auch bei diesem Stück Steph Burger das Bühnenbild. Entstanden ist ein düstereres, mit weichem Teppich ausgelegtes Areal, in dem die Tänzer bisweilen wie Gefangene wirken. Ein rätselhafter Raum, der Licht, Geräusche, ja sogar die Tänzer selbst, mitunter zu verschlucken scheint.
Die Musik ist außerordentlich aufwendig arrangiert. Völlig unterschiedliche Arten von Sounds sind kunstvoll ineinander verwoben. Wohlfühlmusik von Bert Kämpfert geht unvermittelt in harte, mitunter aggressive, Klänge über. Béla Bartók, Nina Hagen, Discomusik, deutscher Schlager… Die entstandene Soundcollage ist ebenso vielschichtig wie das Geschehen auf der Bühne, wo sich Stimmungen sekündlich wandeln. Aus idyllischen Momenten erwächst Aggression, aus Nähe entsteht Manipulation, aus Anziehung wird Kampf.
“ich bin du“ ist verwirrend und vielschichtig, manchmal schön, gelegentlich beunruhigend, des Öfteren bedrückend. Die Tänzer auf der Bühne wirken oftmals hilflos, getrieben von einer Welt, in der sie verzweifelt versuchen, ihren Platz zu finden. Die Bilder, die Johannes Wieland mit den großartigen Tänzerinnen und Tänzern entwickelt, sind nicht immer leicht zu durchschauen, weil sie bewusst offengehalten sind. Es ist der Versuch, Unbeschreibliches spürbar zu machen.
Tosender Applaus hallt durch das Schauspielhaus, als die 70-minütige Reise ihr Ende gefunden hat. Dass diese intuitive und experimentelle Form des Theaters in Kassel mit solcher Begeisterung aufgenommen wird, ist großartig.