“Lucky Happiness Golden Express“ im Staatstheater Kassel
Auf der Suche nach dem ewigen Glück
Mit dem Stück “Lucky Happiness Golden Express“ des US-amerikanischen Autors Noah Haidle, bringt das Staatstheater Kassel während der aktuellen Spielzeit, eine Weltpremiere auf die Bühne, die vom Publikum begeistert aufgenommen wird, da sie inhaltlich, wie auch inszenatorisch zu überzeugen weiß.
Auf der roten Lederbank eines unscheinbaren, menschenleeren China-Imbisses namens “Lucky Happiness Golden Express“ sitzt der ergraute Andrew. Wie an jedem Freitagabend hat er das Tagesgericht “Huhn Kung Po“ sowie einen Cocktail bestellt. Gedankenverloren starrt er ins Nichts, während er geradezu verzweifelt an dem bunt dekorierten Trinkhalm, der in seinem sich unaufhaltsam leerenden Cocktailglas steckt, saugt.
Sein Leben scheint noch einmal an dem betagten Mann vorbeizuziehen. Momente aus der Vergangenheit tauchen auf, in deren Verlauf seine Familie und damit auch sein Traum zerbrochen ist.
Ein poetisches und außerordentlich trauriges Bild von erschütternder Einsamkeit läutet das Ende eines großartigen Theaterabends ein. Eine Szene, die unweigerlich an Werke des Künstlers Edward Hopper erinnert, der so meisterlich die Einsamkeit und Anonymität des Menschen darzustellen wusste.
Ähnlich wie Andrew, schauen auch die von Hopper abgebildeten Menschen, die sich spät abends alleine an der Theke eines Diners wiederfinden, in Gedanken versunken, ins Nichts. Diners, Hotelzimmer, Wartehallen … Hopper stellt Menschen in Räumen des Durchgangs dar, deren Zweck nicht darin besteht dort zu verwurzeln. Die Bestimmung dieser Orte scheint geradezu darin zu liegen, wieder verlassen zu werden. Auch dieses eine Parallele zum Stück auf der Bühne, denn an derartigen Orten findet sich Andrew im Verlauf der Geschichte – gewollt oder nicht – wieder.
Bereits in der Eröffnungsszene ist von dem perfekten, glücklichen Leben, das sich Andrew so sehr herbeigesehnt hat, nichts mehr übrig geblieben. Nach einem erlittenen Schlaganfall liegt er, unfähig mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten, im Krankenhaus. Sein nahender Tod führt noch einmal die zerrüttete Familie, die sich um das Krankenbett versammelt, zusammen. Man hätte sich noch so vieles zu sagen, doch eine Kommunikation ist nun nicht mehr möglich.
An diesem tristen Ort begegnet Andrew ein letztes Mal seiner Frau Vivian, die ihn und die Familie einst verlassen und damit die Illusionen von einem glücklichen Leben unwiederbringlich zerstört hat. Eine anrührende Szene, die gleich zweimal gespielt wird. Das erste Mal sprechen die Familienmitglieder, während Andrew teilnahmslos ihm Bett liegt und lediglich unverständliche Laute artikulieren kann. Beim zweiten Mal spricht, für die anderen nicht wahrnehmbar, Andrew. Eine schöne Idee des Autors, wie auch der Regie, deren noch einige im Verlaufe des Abends folgen werden.
Noah Haidle erzählt eine tragisch-komische Geschichte vom Älterwerden, von Einsamkeit und der Suche nach dem verlorenen Glück. Der junge Dramatiker, dessen Drehbuch zu der Gangsterkomödie “Stand up Guys“ mit Hollywoodgrößen wie Al Pacino und Christopher Walken verfilmt wurde, stellt uns sensible Figuren vor, die sich voller Wehmut an Vergangenes erinnern, die versuchen die Gegenwart irgendwie erhobenen Hauptes zu bewältigen und die verzweifelt um die Kontrolle über ihr eigenes Leben kämpfen. Es ist eine virtuos erzählte und intelligent konstruierte Geschichte, voller Zeitsprünge und Perspektivwechsel. Realität und Fantasie, Vergangenheit und Gegenwart fließen immer wieder ineinander.
Eine derart verschachtelte Geschichte stellt für die Inszenierung, für die Thomas Bockelmann, Intendant am Staatstheater Kassel, verantwortlich zeichnet, eine Herausforderung, aber sicherlich auch einen besonderen Reiz dar. Bei Thomas Bockelmann lag der Text in guten Händen, denn er schafft einen Theaterabend voller poetischer Bilder, der genauso tief berührt, wie auch gut unterhält. Vor allem aber gelingt es ihm, den Text und die Figuren des Stückes in den Mittelpunkt zu stellen und nicht durch verstiegene Regieeinfälle zu überlagern. Zweifellos eine große Stärke Bockelmanns, die er bereits in der Vergangenheit mehrfach unter Beweis stellen konnte.
Doch nicht nur Thomas Bockelmann sondern das gesamte Team hat großartige Arbeit geleistet. Etienne Pluss hat aufwendige Bühnenbilder geschaffen, die in kurzen Umbaupausen immer wieder neu entstehen, sich aber – passend zur Inszenierung – nie in den Vordergrund drängen, sondern eine dichte, eindrucksvolle Atmosphäre schaffen, vor deren Hintergrund die Geschichte und ihre Figuren wundervoll zur Geltung gebracht werden.
Eine wichtige Rolle spielt in der Inszenierung auch das Licht, für das Oskar Bosman die Verantwortung trägt. Lange Schatten an den Wänden lassen Bilder von cineastischer Wirkung entstehen und durch den geschickten Einsatz verschiedener Lichtquellen, werden die erforderlichen Überblendungen und Perspektivwechsel unterstützt.
In einer dieser außerordentlich virtuosen Szenen, in der sich Perspektiven und Zeiten überlagern, durchlebt die Mutter noch einmal als junge, attraktive Frau voller Träume und Sehnsüchte ihre Hochzeitsnacht. Das ist großartig erzählt, gespielt und inszeniert. Ein weiterer Höhepunkt ist eine hinreißende Szene, in der sich der noch junge Andrew mit seiner frisch angetrauten Frau im Hotelzimmer zur Glück verheißenden Hochzeitsnacht einfindet. Beide, in solchen Dingen sicht- und spürbar ungeübt, besitzen zunächst keine Mittel, um die anfängliche Schüchternheit und Ängstlichkeit zu überwinden.
Erst als der verheißungsvolle Moment bereits vorübergezogen zu sein scheint, gelingt es ihnen doch noch, die Leidenschaft zu entfachen. Eine wundervolle Szene voller Poesie, Intimität und Gefühl, die laut Bockelmann bereits im Verlauf der Probenarbeit viel Spaß gemacht habe. In diesen Momenten träumen Andrew und Vivian von einem glücklichen Leben. Sie entwickeln Lebensentwürfe, die eigentlich zwangsläufig zum Glück führen müssten. Sie trinken … natürlich auf die Zukunft. Doch das Ersehnte tritt nicht ein, denn das Glück, das eben noch so greifbar war, lässt sich nicht festhalten.
Drei der fünf Darsteller übernehmen an diesem Abend gleich mehrere Rollen und wechseln diese mitunter inmitten eines Satzes. Jeder Einzelne von ihnen ist großartig. Jürgen Wink als Andrew macht mit jeder Geste seine Einsamkeit und sein Scheitern greifbar. Karin Neumann, ein gern gesehener Gast am Staatstheater Kassel, verkörpert dessen demente Ehefrau Vivian und verleiht der fragilen Persönlichkeit eine feenhafte Aura.
Alina Rank, deren schauspielerische Entwicklung man in den vergangenen Jahren in Kassel mit Freude beobachten konnte, spielt die Tochter Andrea, die stets am Rande der Überforderung ihre Mutter pflegt und mit schwindender Energie ihr Leben zu bewältigen versucht. Bernd Hölscher wechselt gekonnt mit jeder Faser seines Körpers zwischen den verschiedenen Rollen und weiß vor allem als junger Andrew, der noch voller Illusionen und Träume aber auch voller Unsicherheiten ist, zu überzeugen. Ähnliches gilt für eine großartige Christina Weiser, die in drei verschiedene Rollen schlüpft und jeder einzelnen ein klares Profil zu geben versteht.
Noah Haidles geistreiches, vielschichtiges und an vielen Stellen auch sehr lustiges Stück, das Thomas Bockelmann feinfühlig inszeniert hat und das die beteiligten Darsteller berührend spielen, wurde vom Publikum zurecht mit viel Beifall bedacht.
Als ich im Anschluss an diesen sehenswerten Theaterabend nach Hause fahre, erreicht mich die Nachricht, dass der Musiker Lou Reed verstorben ist. In einem seiner letzten Interviews hat er angemerkt, wie schnell die Zeit vergangen sei. “Wie konnte das passieren? Das hört nie auf, mich zu wundern. Gerade war ich doch noch 19.“ Innerhalb von wenigen Augenblicken trifft Theater auf die Realität. “Ein bisschen Zauber ist in allen Dingen und Verlust, um das Gleichgewicht zu halten“, heißt es in einem von Lou Reeds Songs. Vielleicht ist diese Erkenntnis näher an der Wahrheit als Andrews Suche nach dem ewigen Glück.