Super High Resolution (Nathan Ellis) am Staatstheater Kassel
An der Grenze der Belastbarkeit
Das Stück „Super High Resolution“ des englischen Autors Nathan Ellis ist derzeit als deutschsprachige Erstaufführung im Theater im Fridericianum in Kassel zu sehen. Der etwas überraschungsarme Theaterabend wirft einen empathischen und humorvollen Blick auf die Auswirkungen beruflicher Überforderung.
„Alles okay?“ „Ja, ja …“ Anna gibt stets vor, alles sei okay, doch ist ihre momentane Überforderung offensichtlich. Sie habe als Assistenzärztin einen guten Job, den sie gerne ausübe und mit dem es ihr gut gehe … eigentlich. Denn als sich ihr Beruf zunehmend in ihr Privatleben frisst, bis sie ihre eigene Identität kaum noch erkennen kann, gerät sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. „Super High Resolution“ erzählt von der Situation einer Medizinerin, die ihre tägliche Arbeit kaum mehr bewältigen kann. Anna sorgt sich um ihre Patienten, doch „wenn du dich sorgst, werden die Entscheidungen schwierig.“
Der britische Autor Nathan Ellis ließ sich von seiner Schwester, die kurz davorstand, ihren Job als Ärztin aufzugeben, zu dem Stück inspirieren. Bei seinen Recherchen stellte er fest, dass die Suizidrate unter ÄrztInnen signifikant höher ist als in der übrigen Bevölkerung. Im Verlaufe des Theaterabends wird deutlich, dass die mittlerweile wohlbekannten Fehler im Gesundheitssystem, das sowohl die Interessen der PatientInnen als auch die seiner MitarbeiterInnen vernachlässigt, aber auch die emotionalen Auswirkungen der stetigen Fürsorge für Mitmenschen als Ursache vermutet werden können.
Angesichts dieser Belastungen ist es für Annas Schwester Becca nicht nachvollziehbar, warum sie einen derart anstrengenden und psychisch fordernden Job ausübt und auch deren Stiefsohn Sammy fordert Anna unverblümt auf, ihre Arbeitsstelle zu kündigen. Doch für die Ärztin bedeutet jede Entscheidung – egal ob ihren Beruf oder ihr Privatleben betreffend – ein zähes Aushandeln zwischen ihren eigenen Ansprüchen und jenen ihrer Umwelt.
Der Schweizer Regisseurin Manon Pfrunder gelingt eine liebevolle, empathische Inszenierung, in der die Hauptfigur Anna beständig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Fortwährend hält sie sich auf der kargen von Justus Saretz entworfenen, in zwei Teile gespaltenen Bühne auf. So wie Annas Berufs- und Privatleben keine stimmige Einheit bilden, sind die beiden Podeste, auf denen sich die etwas überraschungsarme Geschichte ereignet, durch einen schmalen Graben voneinander getrennt. Anna ist umrundet von Telefonzellen. Der ständigen Erreichbarkeit und den permanenten Anforderungen kann sie nicht entkommen.
Sie ist erschöpft und ausgelaugt aufgrund der von ihr erwarteten Zuverlässigkeit und des Systems, das Menschen über ihre Belastungsgrenze hinaus beansprucht und ausnutzt. Der Druck, der auf Anna lastet, hat schädliche Einflüsse auf ihre privaten Beziehungen und sie steht vor der Herausforderung, einen angemessenen Umgang mit der schwierigen Lebenssituation zu finden und die notwendige Struktur in ihrem Leben nicht zu verlieren.
Als eine fabelhafte Regieidee erweist es sich, Annas Vorgesetzte durch einen Chor darzustellen, wodurch der vielstimmig gesprochene Text an Eindringlichkeit gewinnt. Mal unverhohlen fordernd, mal verführerisch wie die Schlange Kaa im Dschungelbuch, stets manipulativ und ohne jegliche Empathie versucht der Chor Anna zuweilen mit Lob und Anerkennung als Lockmittel auszunutzen und zu instrumentalisieren. Die dringend nötige emotionale Distanz aufzubauen, gelingt Anna kaum.
Annalena Haering überzeugt in der Rolle der Anna. Sie verlässt während des gesamten Abends nicht die Bühne, ist wie ihre Figur dauerhaft „im Dienst“ und legt ihre Arbeitskleidung nie ab. Sie zeigt eine freundliche, humorvolle, kompetente und grundsätzlich belastbare Ärztin, die in eine Krise gerät, in der die Badewanne einer der wenigen Rettungsanker bleibt. Die weiteren Figuren sind in der Textvorlage leider weniger fein sondern eher holzschnittartig gezeichnet wie Annas mitteilsame Schwester Becca (Laura Lippmann), Annas Verehrer David (Marcel Jacqueline Gisdol), die Patientin Janet (Christina Weiser) und der etwas unbeholfene, aber dank seiner Unverfälschtheit kluge Stiefsohn Sammy (Jonathan Stolze).
Trotz ihrer tiefer werdenden Zweifel am eigenen Lebensentwurf bleibt Anna humorvoll, was sich oftmals als hilfreich erweist, zu einer verfahrenen Situation innerlichen Abstand zu gewinnen. Somit gibt es trotz des ernsten Themas für das Publikum einiges zu lachen. Autor Nathan Ellis beschreibt sein Werk treffend als „ein lustiges Stück über lustige Menschen, die eine schwere Zeit haben.“