“Tagebuch eines Wahnsinnigen“
Gelungene Premiere in Kassel
- 11/10/2013, 11:09 Uhr
Das Einpersonenstück “Tagebuch eines Wahnsinnigen“ feierte am vergangenen Donnerstagabend Premiere im Kasseler Staatstheater (Theater im Fridericianum). Die Bühne gehörte alleine dem Schauspieler Christoph Förster, der gänzlich überzeugen konnte und zurecht mit reichlich Applaus bedacht wurde.
“Sie sind ein Nichts, ein Niemand, eine Null!“, faucht zu Beginn des Stückes, der Abteilungsleiter. Mit solch niederschmetternden Worten wird dem einsamen und bemitleidenswerten Aksenti Iwanow Propristschin die eigene Bedeutungslosigkeit aufgezeigt. Zu den Aufgaben des untergeordneten Beamten gehört es, die Bleistifte des Staatssekretärs anzuspitzen. Eine Tätigkeit, die ihm keinerlei Respekt verschafft, auch wenn er sich noch so sehr müht. Zudem ist er unglücklich verliebt, denn die Verehrte bleibt für ihn, aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung und weiterer Unzulänglichkeiten, unerreichbar. Sein tristes Leben, seine Frustrationen und schließlich auch seine Flucht aus der Bedeutungslosigkeit hält er akribisch in seinem Tagebuch fest.
Die Umstände haben Propristschin in eine ausweglose Lage gebracht. Er führt ein Leben, das er nie führen wollte, und das ihm nicht angemessen erscheint, doch ihm fehlen die Mittel dieses aus eigener Kraft zu verändern. Die Realität ist derart demütigend und inakzeptabel für ihn, dass er sich zunehmend in eine Scheinwelt flüchtet, in der er endlich die gewünschte Stellung und Anerkennung erhält. Das erinnert an Arthur in “Per Anhalter durch die Galaxis“, der angesichts der immer absurder werdenden Realität sein Gegenüber fragt: “Hören Sie mal, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich jetzt einfach aufgebe und verrückt werde?“
Propristschin hört Stimmen und belauscht sprechende Hunde. Eines Tages liest er vom Ableben des spanischen Königs, der ohne Thronfolger verstorben ist und kommt zu der Erkenntnis, dass einzig er selbst der legitime Nachfolger sein müsse. Mithilfe dieser Wahnvorstellungen gewinnt er endlich seine Würde zurück. Propristschins Gedanken sind selbstverständlich absurd und sein Verhalten pathologisch, doch bleibt er für den Zuschauer trotz seiner Unzulänglichkeiten eine liebenswerte Person. Allzu menschlich erscheint doch die Tatsache, dass sein persönliches Wohlbefinden davon bestimmt wird, wie sehr er von seinem Umfeld akzeptiert und respektiert wird. Letztlich flüchtet er sich in den Wahnsinn, um dem Wahnsinn der realen Welt zu entkommen.
Aus dem Jahre 1835 stammt die Erzählung des russischen Dichters Nikolai Wassilijewitsch Gogol, dessen eigene Lebensgeschichte bemerkenswerte Parallelen zu der seines Protagonisten aufweist. Als Kind war er, da er klein, dünn und insgesamt von eher schwächlicher Erscheinung war, dem anhaltenden Spott seiner Mitschüler ausgesetzt. Zudem führte eine Erkrankung bei ihm zu deutlich sichtbaren Geschwülsten im Halsbereich. Der Übergang in das Berufsleben war von Frustrationen geprägt, da es ihm weder gelang, die angestrebte Universitätslaufbahn einzuschlagen, noch sich als Schauspieler erfolgreich zu behaupten.
Erst die Bekanntschaft mit Alexander Puschkin, der ihn fortan förderte, verhalf Gogol, den Weg zur Literatur zu finden. In den 1830er Jahren veröffentlichte er einige Erzählungen und das durchaus mit Erfolg, der jedoch nicht lange anhielt. Gogol galt als komplizierte Persönlichkeit. Er litt zunehmend an psychischen, wie physischen Krankheiten, war aufbrausend und neigte dazu, vor schwierigen Situationen zu flüchten, weshalb er einen Großteil seines Lebens mit Reisen verbrachte. Schließlich steigerte er sich in einen religiösen Wahn, der ihn letztlich zerstörte. Er verstarb im Alter von 42 Jahren an den Folgen von strengem Fasten. Zeit seines Lebens blieb er, selbst für nahe Verwandte und Bekannte, ein rätselhafter, unnahbarer Mensch.
Die Inszenierung von David Czesienski entstand in Zusammenarbeit mit Christoph Förster im Jahre 2008 an der Ernst Busch Hochschule in Berlin. Es sei für ihn immer wieder eine große Freude, sich mit der Figur Propristschin zu beschäftigen und sich seiner anzunehmen, berichtet Christoph Förster.
Präsentiert wird ein Einpersonenstück mit minimalistischem Bühnenbild, das lediglich aus unzähligen Blättern Schreibmaschinenpapier besteht, die neben diversen Taschentüchern die einzigen Requisiten bleiben. Gewiss eine Herausforderung für Christoph Förster, der somit vollkommen im Zentrum des Abends steht.
Eine Aufgabe, die der junge Schauspieler überzeugend meistert. Mit facettenreicher Mimik, wohldosierter Gestik und seiner überaus markanten Stimme zieht er die Aufmerksamkeit komplett auf sich. Christoph Förster lässt sein komisches Talent erkennen, vor allem aber gelingt es ihm vorzüglich, den schleichenden Übergang in den Wahnsinn feinfühlig und nicht zu überzeichnet darzustellen.
Christoph Förster schildert im Anschluss an die Vorstellung, dass ihm die Figur Propristschin bereits beim Lesen der Erzählung sehr nahe gegangen sei, weil es für ihn “absolut nachvollziehbar“ sei, “in unserer heutigen Zeit durchzudrehen, ob des Drucks unter dem man permanent steht. Aufrichtigkeit, Empfindsamkeit, Empathie spielen wenig bis gar keine Rolle. Das sind in meinen Augen Wesenszüge, die Aksenti auszeichnen. Das finde ich interessant und wert, dass man es öffentlich ausspricht.“
Man kann deutlich spüren, wie sehr Christoph Förster die Figur ans Herz gewachsen ist. “Ich finde es wichtig, in einer Zeit, in der selbst kleine Kinder schon auf Effizienz gedrillt werden, in der in wenig Zeit immer mehr geschaffen werden muss, in der überhaupt NUR geschaffen werden muss, einen Menschen zu zeigen, der auch SEIN will. Jemand, der den Druck nicht versteht, nicht weil er dumm ist, sondern weil er ihn nicht verstehen will, ist in meinen Augen ein Vorbild in unserer Zeit. Das Aksenti ein so tragisches Ende nimmt, nimmt mich persönlich jedes Mal aufs Neue mit. “