“Tod eines Handlungsreisenden“ am Staatstheater Kassel
Zerplatze Träume
“Tod eines Handlungsreisenden“ – das wohl bekannteste Drama Arthur Millers hat auch siebzig Jahre nach seiner Entstehung nichts von seiner Aktualität verloren, wie die Inszenierung von Maik Priebe am Staatstheater Kassel zeigt.
Am 28. August 1963 formulierte Martin Luther King Jr. (1929 – 1968) seine Version des “American Dreams“, den er nicht auf materielle Werte reduzierte, sondern die Verwirklichung von Ideen wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit in das Zentrum rückte. “I Have a Dream“ lautet der Titel seiner gefeierten Rede, in der der Bürgerrechtler vor mehr als 250.000 Menschen eine Zukunftsvision für die Vereinigten Staaten, in denen für viele der “American Dream“ geplatzt oder ohnehin unerreichbar ist, entwarf.
Etwa 15 Jahre zuvor erschuf der US-amerikanische Schriftsteller und Drehbuchautor Arthur Miller (1915 – 2005) in seinem Drama “Death of a Salesman“ (dt.: Tod eines Handlungsreisenden) mit Willy Loman – “einen vom Schrecken überwältigten Mann, der in die Leere hinein um Hilfe ruft, die niemals kommen wird“ (Arthur Miller) – eine solche Figur, für die der Wunsch nach Aufstieg und somit der “Amerikanische Traum“ zerrinnt.
Der 63 Jahre alte Vertreter, der seit Jahrzehnten mit seinen Koffern durch den Bundesstaat New York reist, ist ein innerlich zerrissener Mensch, dessen Not sich in seiner Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart und seiner Illusion, ein bedeutungsvolles Leben geführt zu haben, angesichts der Erkenntnis, keinerlei Anerkennung geerntet zu haben, offenbart.
1949 verfasste Arthur Miller mit dem “Tod eines Handlungsreisenden“ sein vielleicht bekanntestes und mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Drama. Seitdem sind siebzig Jahre, in denen die USA bis zur derzeitigen Präsidentschaft Donald Trumps eine bewegte Geschichte durchlebt hat, vergangen. Die “Abgehängten“, jene an den gesellschaftlichen und eigenen Erwartungen Gescheiterten sind geblieben. In seiner Inszenierung am Staatstheater Kassel gelingt Regisseur Maik Priebe ein aktueller Blick auf das ohnehin zeitlose Stück.
Eingerahmt von Konfettikanonen und herabsinkenden Luftballons, ein Bild, das an US-amerikanische Wahlkampfauftritte erinnert, in denen mit reichlich Pathos große Zukunftsverheißungen verkündet werden, taucht Willy Loman auf, dessen gesellschaftlichen und persönlichen Abstieg die Zuschauer in den folgenden 100 Minuten verfolgen. Der einst aufstrebende Verkäufer verliert im Alter aufgrund nachlassenden Erfolges seinen Arbeitsplatz und vermag die Kraft, diesem Schicksalsschlag zu begegnen und eine realistische Perspektive zu entwickeln, nicht aufzubringen. Stattdessen bleibt er in seinen Träumen verhaftet und flüchtet sich in eine Lebenslüge bis hin zur Auslöschung der eigenen Identität.
Loman zerbricht am sich zu eigen gemachten American Dream, nach dessen Vorstellung jeder Mensch mittels harter, ehrlicher Arbeit seinen Lebensstandard zukünftig verbessern könne. Dabei ist er sicherlich kein Einzelfall, belegen doch aktuelle Studien, die sich mit sozialer Mobilität auseinandersetzen, dass der erreichbare soziale Status eines Menschen in den USA – und ebenso in Deutschland – weniger von seiner Anstrengungsbereitschaft, als vielmehr auf seine Herkunftsfamilie und deren Status zurückzuführen ist und die propagierte Chancengleichheit sich aufgrund der stetig steigenden ökonomischen Ungleichheit gar verringert.
Das aufwendige Bühnenbild (Susanne Maier-Staufen) wandelt sich insbesondere im ersten Teil der Produktion häufig – eine besondere Würdigung verdienen sich an diesem Abend die Bühnentechniker -, wobei teils ausdrucksstarke Bilder entstehen.
Maik Priebe verortet die Geschichte nur vage und erzählt sie nicht streng linear. Ähnlich wie im Innenleben von Willy Lohman vermischen und beeinflussen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Aussagen, Handlungen und Motive wiederholen sich. Willy Lohman lebt in einem Hamsterrad, das von innen aussieht wie eine Karriereleiter, ohne realisieren zu können, dass es für ihn schon lange nicht mehr bergauf geht.
Enrique Keil (Willy Loman) erweist sich als hervorragende Besetzung. Subtil wechselt er zwischen irrationaler Besessenheit, wachsender Verzweiflung, aufgesetztem Stolz und depressiver Niedergeschlagenheit. Schmerzlich konstruiert er sich sein Leben, dem Bedeutung, Beliebtheit und wirtschaftlicher Erfolg Sinn verleihen sollen. “Es kommt nicht darauf an, was du sagst, sondern wie du wirkst“, lautet sein Erfolgsmotto. Er verklärt die Vergangenheit, verkennt die Gegenwart und fantasiert sich die Zukunft.
Die verheißungsvolle Zukunft überträgt Willy Loman auf seinen Sohn Biff (Hagen Bär). “Willst Du gar nichts WERDEN?“, fragt er ihn vorwurfsvoll, ohne zu verstehen, dass dieser bereits etwas IST. Biff ist diesem Druck, mit dem viele in Form der letztlich belastenden Vorstellung “Du sollst es einmal besser haben als wir“ konfrontiert werden, nicht gewachsen. Biff hat ohnehin den Respekt vor seinem Vater verloren, seit er ihn bei einer Affäre ertappt hat und lehnt sich gegen dessen Ideale auf. “Er hatte den falschen Traum.“
Die folgenreichen Auswirkungen, die Willy Lomans Denk- und Handlungsweisen auf seine Umgebung – vorrangig auf seine Familie – hat, offenbart auch das Verhalten seiner Ehefrau Linda (Caroline Dietrich), die zwar die Nöte ihres Gatten erkennt, sich um ihn sorgt und ihn ermutigt, jedoch ohne dabei zu erkennen, dass sie die Misere durch ihr Verhalten verstärkt. Eine wunderbar rätselhafte Gestalt (Aljoscha Langel), die den drohenden gesellschaftlichen Absturz personifiziert, taucht auf, um mit Willy imaginäre Gespräche zu führen. Umrahmt wird die Handlung von Willys Beerdigung, bei der nur wenige Trauernde zugegen sind und der bohrend desillusionierten Frage: “Warum ist denn niemand gekommen?“
Warum kommt kaum jemand zu Willys Trauerfeier? Warum zeigen derart wenige Menschen ihren Respekt? Willy wurde im Verlauf seines Lebens an den Rand gedrängt ähnlich wie Obdachlose, Senioren, Kranke oder Migranten. Wer ist Mitglied der Gemeinschaft und wer wird ausgestoßen – und wer entscheidet über diese Frage? Linda Loman fordert gleichen Respekt und gleiche Sorge für JEDEN Menschen – eine Forderung, die im Amerika Donald Trumps unerreichbar erscheint.
Mit Willy scheint auch der amerikanische Traum, samt der Illusion vom fortwährenden Fortschritt sowie das Versprechen, jeder könne den materiellen Aufstieg schaffen, zu Grabe getragen werden. “Im Grunde entscheidet ein Münzwurf, ob es einem besser geht als den Eltern“, resümiert der Wirtschaftsprofessor Raj Chetty die Ergebnisse seiner Studie zur sozialen Durchlässigkeit. Die Chance auf Teilhabe am Wohlstand sei keineswegs für alle Amerikaner identisch. Forschungen haben vielmehr gezeigt, dass die soziale Klasse für den Biografie einer Person ein entscheidender Faktor ist, so ist etwa das durchschnittliche Einkommen Schwarzer bis heute nur etwa halb so hoch wie das von Weißen.
12 Jahre bevor Arthur Miller sein Drama “Tod eines Handlungsreisenden“, das bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat, verfasste, bildete Ernest Hemingway den Gegenbegriff des “American Dream“ und sprach in seinem Roman “To Have and Have Not“ vom “American Nightmare“. Doch was könnte den zerplatzten – “den falschen“ (Biff Loman) – Traum ersetzen? Möglicherweise war Martin Luther King 1963 bereits auf dem richtigen Weg, doch dessen Ideale scheinen seit der Präsidentschaft Donald Trumps und in einer Welt voll wachsender religiöser und kultureller Intoleranzen weiter entfernt denn je.