Unterwegs… in Kassel

Elisabeth Selbert – Teil 2: Sternstunde ihres Lebens

Dr. Peter Schneider – CC BY-SA 4.0
„Wir haben damals Politik wirklich aus Idealismus gemacht.“
(Elisabeth Selbert)
Dank zweier mutiger Richter des Kasseler Oberlandesgerichts war es Elisabeth Selbert 1934 als einer der letzten Frauen während der NS-Herrschaft gelungen, zur Anwaltschaft zugelassen zu werden. So konnte sie noch im selben Jahr in Kassel ihre eigene Kanzlei mit dem Schwerpunkt Familienrecht eröffnen.
Bis zum Ende der Naziherrschaft sorgte sie für das nötige Familieneinkommen, da ihr Ehemann Adam nach vorübergehender Internierung im Konzentrationslager Breitenau von den Nationalsozialisten als 40-Jähriger vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden war und fortan unter Aufsicht der Gestapo stand.
Selbert erwarb eine Kanzlei, die zuvor von zwei befreundeten jüdischen Rechtsanwälten, die ihr das Anwaltsbüro angeboten hatten, um mit dem Ertrag ihre bereits geplante Flucht zu finanzieren, geführt wurde.

Königsplatz auf einer Postkarte, ca. 1900 / Public Domain
Die Räumlichkeiten befanden sich am Königsplatz, einem runden Areal im Zentrum von Kassel, der damals wie heute von der Straßenbahn gekreuzt wird. Der Platz wurde 1767 im Rahmen einer Neugestaltung der Stadt angelegt, nach den Zerstörungen durch britische Fliegerbomben im 2. Weltkrieg erneuert und ist heute Teil der innerstädtischen Fußgängerzone.

Königsplatz
Die Gestaltung des Areals wird in der Stadt traditionell kontrovers diskutiert, was für mich durchaus nachvollziehbar ist, wirkt die Bebauung mit Gebäuden aus unterschiedlichen Epochen und Architekturstilen doch äußerst heterogen. So prägen neben Bauten aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts auch das im Jahr 2002 fertiggestellte moderne Einkaufszentrum „City-Point“ den in der Vergangenheit mehrfach umgestalteten und seit 2005 von 36 Wasserspeiern aus Bronze umgebenen Platz.
Elisabeth Selbert arbeitete hier mit anderen Anwälten zusammen, um mit den noch vorhandenen rechtlichen Mitteln zu versuchen, Menschen vor Verfolgung des NS-Regimes zu schützen. Doch vorrangig vertrat sie Frauen, die vor einer Scheidung standen: „Wie groß war immer das Erschrecken dieser Frauen, dass sie bei der Scheidung mit leeren Händen aus dem Hause gingen, weil sie nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch verpflichtet waren, im Geschäft oder im Betrieb des Mannes mitzuarbeiten, ohne allerdings an dem Gewinn oder dem Vermögen, das sie mit erarbeitet hatten, beteiligt zu sein.“
Egal ob es um Finanzen, den Wohnort, die Erziehung und Ausbildung der gemeinsamen Kinder oder die Berufstätigkeit der Ehefrau ging – laut herrschendem Recht hatte der Mann in all diesen Fragen das letzte Wort. Für Elisabeth Selbert stand fest, dass bei einem staatlichen Neuanfang nach dem hoffentlich baldigen Ende der NS-Herrschaft derartig ungerechte Gesetze aufgehoben werden mussten.
Am 22. und 23. Oktober 1943 verwandelten britische Bomber die nordhessische Stadt in eine Trümmerwüste, in der etwa 10.000 Menschen ihr Leben ließen. Die dicht bebaute Altstadt mit ihren leicht entflammbaren Fachwerkhäusern wurde innerhalb von 22 Minuten vollständig eingeäschert. Statistisch wurden auf jeden Quadratmeter zwei Brandbomben abgeworfen, was ein Feuerinferno auslöste, das für viele Bewohner:innen den vermeintlich schutzspendenden Keller zur tödlichen Falle werden ließ.

Der zerstörte Königsplatz im April 1945
Bei den alliierten Luftangriffen auf Kassel wurde sowohl die Kanzlei Selberts als auch ihre Wohnung vollständig zerstört, weshalb sie mit ihrem Mann bei Kriegsende ein Zimmer in einem Hotel im etwa 30 Kilometer entfernten Melsungen bezog. Die Kleinstadt ist zwar mit dem Auto innerhalb einer halben Stunde von Kassel aus zu erreichen, aber wer besaß damals schon ein Auto? Die Familie Selbert jedenfalls nicht, weshalb Elisabeth zu einem sechsstündigen Fußmarsch aufbrach, um an der ersten SPD-Veranstaltung nach dem Krieg teilzunehmen. „Da bin ich also zu Fuß allein und ohne Passierschein durch die Söhre [eine nordhessische Mittelgebirgslandschaft; Anm. d. Autors] gegangen“, erinnerte sich Elisabeth Selbert und fuhr bewegt fort: „Ich kam gerade an, als diese Veranstaltung eröffnet wurde – die erste Zusammenkunft der hessischen Sozialdemokraten nach dem Hitlerreich. Ich empfinde noch heute die Rührung über die Freude, dass wir noch da waren. Über jeden haben wir uns gefreut, der noch oder wieder da war. Es war eben nicht allein der Neubeginn unseres Parteilebens, sondern auch – wie soll ich sagen? – eine unendliche Freude darüber, dass wir wieder frei atmen konnten. Viele Männer habe ich damals weinen gesehen.“
Ich blicke auf eine Kanonenkugel, die in der Wand im Treppenhaus eines Gebäudes unweit des Königsplatzes eingemauert wurde und belegt, dass auch mehr als 100 Jahre vor dem Bombenhagel des 2. Weltkrieges hier Geschosse geflogen sind.

Kanonenkugel aus dem napoleonischen Krieg
1813 schlug die von russischen Kosaken aus dem nahen Bettenhausen abgefeuerte Kugel in ein Wohnhaus ein. Zuvor hatte Napoleon Bonaparte die Region besetzt, dem neu geschaffenen Königreich Westphalen zugeschlagen und seinen jüngsten Bruder Jérôme als König, der in Kassel residierte, eingesetzt. Während der Besetzung kam es wiederholt zu Aufständen gegen die französische Regierung, bis kurz vor der entscheidenden Völkerschlacht bei Leipzig (1813) die russischen Kosaken des Generals Tschernyschow Kassel eingenommen hatten und das Königreich Westphalen auflösten. Jérôme floh und Kurfürst Wilhelm I. kehrte unter dem Jubel der Bevölkerung nach Kassel zurück.

Die Rückkehr des Churfürsten Wilhelm I. von Hessen-Kassel, 1813
Das von der Kanonenkugel getroffene Haus wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, ein neues Gebäude an gleicher Stelle errichtet und die Kugel als Erinnerung an den Sieg während der napoleonischen Kriege im Treppenhaus eingemauert. Das Haus markiert den Beginn der Treppenstraße, der 1953 eröffneten und somit ersten Fußgängerzone Deutschlands, die ihren Namen der Tatsache verdankt, dass auf einer Strecke von 300 Metern etwa 15 Meter Höhendifferenz mit 104 Stufen überbrückt werden, weshalb die Straße heute als Negativbeispiel für barrierefreies Bauen dient.

Treppenstraße, 1969 /
Bundesarchiv, B 145 Bild-F030015-0010 / Gathmann, Jens / CC-BY-SA 3.0

Die Treppenstraße heute
Aufgrund der weitgehenden Zerstörung der Kasseler Innenstadt im Zweiten Weltkrieg konnten die Städteplaner recht unabhängig von bestehenden städtebaulichen Gestaltungen planen. Inmitten der Zeit des Wiederaufbaus, bei der insbesondere in Kassel die autogerechte Stadt im Vordergrund der Überlegungen stand, stellte die Treppenstraße eine architektonische Ausnahme dar. Die Randbebauung ist bis heute von nüchternen, klar strukturierten Fassaden im typischen Stil der 1950er-Jahre geprägt und hat über die Jahrzehnte erheblich an Anziehungskraft eingebüßt.

Treppenstraße
Als die Bagger und Baumaschinen die neue Straße schufen, erhielt Elisabeth Selbert als politisch Unbelastete am amerikanischen Militärgericht die Zulassung als Strafverteidigerin und bekam von der Besatzungsmacht eine großzügige Wohnung in der Goethestraße 74 zugewiesen, in der sie zunächst auch ihre Kanzlei betrieb und die zudem als Treffpunkt für Sitzungen der Kasseler Sozialdemokraten diente.

Goethestraße 74
Mit großem Engagement beteiligte sie sich nicht nur am Wiederaufbau ihrer Partei, sie bekleidete auch mehrere kommunalpolitische Ämter, war Mitglied von Spruchkammern und Ehrengerichten zur Entnazifizierung und maßgeblich am Neuaufbau der Justiz in Hessen beteiligt. Da sie kompetent war und sich während der NS-Zeit nichts zuschulden kommen lassen hatte, berief die US-Militärbehörde sie sowohl in die Kasseler Stadtverordnetenversammlung als auch in die Verfassungsberatende Landesversammlung für das neu gegründete Groß-Hessen sowie als eine von vier Frauen in den Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz der neuen Bundesrepublik entwerfen sollte. Angesichts all dieser Ämter und der Tatsache, dass sie zeitgleich ihre Kanzlei neu eröffnete, wird erkennbar, dass Elisabeth Selberts Elan und Leistungsfähigkeit schier unerschöpflich waren.
Möglicherweise hat sie gelegentlich im nahe gelegenen und bis heute existierenden Stadthallengarten Energie geschöpft. Die überschaubare Parkanlage hat der Kaufmann Sigmund Aschrott, der Bauherr und Gründer des Stadtteils Vorderer Westen, in dem ich mich soeben befinde, 1905 anlegen lassen und schenkte 1913 anlässlich der 1000-Jahrfeier Kassels die Grünanlage der Stadt, verbunden mit der Auflage, eine Stadthalle auf dem Grundstück zu errichten.

Stadthallengarten
Kassel zählt zu den grünsten Städten Deutschlands. Öffentliche Grünanlagen, Wälder und Felder bedecken nahezu die Hälfte der Fläche des Stadtgebiets. Im Vergleich zu dem Bergpark Wilhelmshöhe, dem größten seiner Art in Europa und UNESCO-Weltkulturerbe, der weitläufigen Karlsaue oder der „Dönche“, dem größten innerstädtischen Naturschutzgebiet Deutschlands, handelt es sich bei dem Stadthallengarten um einen versteckten und überschaubaren Park, der eine große Ruhe und Eleganz auf mich ausstrahlt. Von dem Hauptweg, der das rechteckige Areal einfasst, führen mich schmale gewundene Pfade an prächtigen Blumenbeeten vorbei, die alljährlich die Besucher mit neuen Farbkombinationen überraschen.

Stadthallengarten
Ich passiere eine bemerkenswerte Anzahl von Holzbänken, die sich teils zwischen den blühenden Sträuchern und hohen Hecken verstecken und zum Verweilen einladen, schattenspendende Bäume, Natursteinmauern sowie ein mit Kiwipflanzen beranktes Rondell. Die großzügige zentrale Rasenfläche ermöglicht es stets, nahezu die gesamte Anlage zu überblicken und schafft somit einen überschaubaren Gesamteindruck.
Der Park wird vom städtischen Gartenamt offenkundig intensiv und fürsorglich gepflegt. Auch die einstige Auflage von Sigmund Aschrott, die Stadt möge auf dem Grundstück ein kulturelles Zentrum für die Bürger:innen seiner Heimatstadt schaffen, wurde 1914 mit der Eröffnung der monumentalen Stadthalle erfüllt. Sie dient seitdem als Veranstaltungsort für Ausstellungen, Konzerte, Messen und Tagungen und beherrscht mit ihrem neoklassizistischen Portikus die nähere Umgebung. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude von einer Brandbombe getroffen, die jedoch nur geringen Schaden hinterließ, an den noch heute ein bräunlicher Fleck im Boden der Eingangshalle erinnert.

Stadthalle
Nach dem Krieg wurde der Eingangsbereich ebenso wie die gesamte Stadt Kassel wieder aufgebaut. Elisabeth Selbert war persönlich maßgeblich am politischen Wiederaufbau beteiligt. Der Schwerpunkt ihrer politischen Tätigkeit lag zunächst in ihrer Mitgliedschaft in der hessischen Landesversammlung, welcher die Aufgabe auferlegt wurde, eine neue Landesverfassung zu erarbeiten. Hierzu wurde zunächst die Hauptstadt für das neugegründete Bundesland gesucht. Das zunächst favorisierte Frankfurt strebte aussichtsreich an, zur neuen Bundeshauptstadt ernannt zu werden, die Städte Kassel und Darmstadt lagen in Trümmern und waren vollauf durch den Wiederaufbau beansprucht, sodass die Wahl auf Wiesbaden fiel.
Die Anreise in die frisch gekürte Landeshauptstadt war zu jener Zeit beschwerlich und brachte stundenlange Zugfahrten mit sich. Da die Sitzungen oftmals bis in den Abend andauerten, war Elisabeth Selbert nicht selten gezwungen, sich ein Hotelzimmer zu suchen, da zu später Stunde kein Zug mehr zurück nach Kassel verkehrte. Über die für die regelmäßigen Übernachtungen notwendigen finanziellen Mittel verfügte sie nicht, weshalb sie sich oftmals ein Zimmer mit anderen Hotelgästen teilte. „Wir haben damals Politik wirklich aus Idealismus gemacht“, erinnert sie sich an jene Aufbruchszeit.
Elisabeth Selbert brachte sich rege und engagiert zu verschiedensten Themen ein und fiel dabei durch ihre Hartnäckigkeit, mit der sie beständig auf Klarheit und Eindeutigkeit der Sprache bei den zu verhandelnden Artikeln pochte, auf. Es stieß nicht immer auf die ungeteilte Begeisterung ihrer Kolleg:innen, wenn sie wiederholt beklagte: „Ich verstehe eines nicht … Warum drücken wir uns nicht klarer aus?“ Als es beispielsweise um die Freiheit der Person ging, lautete ein Vorschlag: „Der Mensch ist frei geboren und bleibt lebenslang frei.“ Elisabeth Selbert meldete sich zu Wort. „Ich würde vorschlagen, diese merkwürdige Formulierung nicht zu übernehmen, sondern lapidar zu sagen: Der Mensch ist frei.“ Dieses ethische Postulat umfasse alle denkbaren Bereiche. Und so steht es bis zum heutigen Tage in der hessischen Verfassung: „Der Mensch ist frei.“
Die damals 50-Jährige widmete sich einer Vielzahl verschiedenster Themen. Sie setzte sich für die Aufnahme der Unschuldsvermutung vor Gericht ein, was sie aus den leidvollen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit ableitete, als Menschen auch ohne Beweise als schuldig betrachtet wurden. Auch die zukünftige Wirtschaftsordnung, die Entnazifizierung, die Verbesserung der rechtlichen Lage psychisch kranker Menschen sowie der soziale Wohnungsbau weckten ihr Interesse. Das Thema Gleichberechtigung stand hingegen nicht im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit.
Dieses wurde erst während ihrer Tätigkeit im Parlamentarischen Rat, dessen Aufgabe darin bestand, ein Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland zu entwerfen, zu ihrem zentralen Anliegen. Ihre Parteigenossen in Hessen hatten sie nicht in das bedeutende Gremium berufen, was dem damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, der eine hohe Meinung von Elisabeth Selbert hatte, missfiel. Der für seinen autoritären Führungsstil bekannte Schumacher intervenierte, sodass sie schließlich vom Land Niedersachsen für den Parlamentarischen Rat nominiert wurde.

Hinweisschild für die Anfahrt zum Parlamentarischen Rat bei Bonn / CC BY-SA 3.0
Im Bonner Naturkundemuseum Alexander König fand am 1. September 1948 der Festakt zum Zusammentritt des Rates statt. Auf das reizvolle Bild von erhaben emporragenden Giraffen, die wohlwollend auf die Anwesenden hinunterblicken, wurde bedauerlicherweise verzichtet, da die beiden präparierten Tiere, welche die Halle dominierten, zu diesem feierlichen Anlass verhüllt wurden.

Eingangshalle Naturkundemuseum Alexander König /
Bundesarchiv B 145 Bild-F012911-0003, Bonn, Museum König.jpg / Steiner, Egon / CC-BY-SA 3.0
Wildtiere könnte man auch in Kassel vermuten, doch auch wenn es der Straßenname suggeriert, haben sich in der Kasseler „Wolfsschlucht“ keine heulenden Wölfe herumgetrieben. Die Vermutung liegt nahe, dass die Benennung auf den Architekten Johann Heinrich Wolff (1792-1869), den Erbauer der ersten Häuser an dieser Straße, zurückgeht und das zweite „f“ im Laufe der Jahre durch Übertragungsfehler verschwunden ist, doch Karl-Hermann Wegner, einstiger Leiter des Kasseler Stadtmuseums, weiß zu ergänzen: „Der Name war eine Spottbezeichnung für die Straße, entstanden aus dem Volksmund.“ Der Kasseler Bevölkerung habe die dortige moderne Bebauung nicht gefallen. Sie empfand die Straße als eine ungemütliche, bedrohliche Schlucht und da seinerzeit die romantische Oper „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber in aller Munde war, habe man die in dem Stück thematisierte gespenstische „Wolfsschlucht“ aus dem Bühnenwerk entnommen und sie geradewegs nach Kassel versetzt, um den herrschenden Unmut über die neuartige Architektur zum Ausdruck zu bringen.

An der Kreuzung Wolfsschlucht / Treppenstraße stoße ich auf einen etwa 16 Meter hohen Obelisken, den der nigerianische Künstler Olu Oguibe 2017 im Rahmen der documenta 14 ursprünglich für den Kasseler Königsplatz geschaffen hat. Beschriftet ist das monumentale Kunstwerk mit dem Bibelzitat „Ich war ein Fremdling, und ihr habt mich beherbergt“, das jeweils auf Deutsch, Englisch, Arabisch und Türkisch, jenen vier Sprachen, die in Kassel am häufigsten gesprochen werden, zu lesen ist. Für den Künstler sei dies eine universelle humanitäre Botschaft, die an die weltweit 60 Millionen Flüchtlinge erinnern solle. Zudem wolle er mit dem Bibelzitat insbesondere die weltweite Christenheit auffordern, die Augen vor der Not von Flüchtlingen nicht zu verschließen.

„Fremdlinge und Flüchtlinge Monument“
Befand sich der Obelisk 2017 noch auf dem Königsplatz, ist er seit mittlerweile drei Jahren hier in der Treppenstraße zu finden. Dem Umzug ging ein monatelanger erbitterter, teils unwürdiger Streit voraus. Olu Oguibe hatte den ursprünglichen Standort für sein Kunstwerk unter anderem gewählt, da der Platz von Oberhofbaumeister Simon Louis du Ry (1726–1799), der einer hugenottischen Flüchtlingsfamilie entstammte, entworfen wurde.
„Ich interessiere mich mehr für die positive Geschichte der Stadt, eine Stadt, in der Fremde, Besucher, Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt eine Heimat fanden. Das wollen wir anerkennen. Seine Tür einem Fremden zu öffnen, ist ein Akt des Vertrauens. All das ist verwoben in den Text, der für die Inschrift gewählt wurde. (…) Für mich ist das Ziel, einen Raum zu hinterlassen für Reflexion, für Einkehr, vielleicht sogar für Debatte um die Fragen der Gastfreundschaft und Dankbarkeit“, erläutert der Künstler Olu Oguibe.
Der Obelisk zählte alsbald zu jenen Documenta-Kunstwerken, deren möglicher Ankauf und Verbleib in der Stadt diskutiert wurde. Bei vielen Bürgern kam das Werk gut an, während andere es aus ästhetischen oder politischen Gründen ablehnten, sodass sich eine Kontroverse entwickelte, die zunehmend feindseliger wurde. Der AfD-Stadtverordnete Thomas Materner diffamierte den Obelisken im Kulturausschuss der Stadt als „ideologisierende und entstellende Kunst“ und legte damit eine erschreckende Nähe zur NS-Sprache offen. Eine Mehrheit der Stadtverordneten lehnte den vom Künstler geforderten Standort auf dem Königsplatz ab, weshalb das Mahnmal unter Federführung des Kasseler Oberbürgermeisters Christian Geselle abgeschirmt von Polizeieinheiten in den frühen Morgenstunden des 3. Oktober 2018 in einer unangekündigten Aktion und ohne Wissen der Kulturdezernentin demontiert und vorübergehend eingelagert wurde.
Um das Kunstwerk für Kassel zu erhalten und entgegen seiner bisherigen Haltung stimmte Oguibe in der Folge der Versetzung des Obelisken an den von der Stadt befürworteten Standort zu, sodass die Säule 2019 in der Treppenstraße erneut errichtet wurde, um dort dauerhaft zu verbleiben.

„Fremdlinge und Flüchtlinge Monument“
„Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“, ist seither dort in goldenen Lettern zu lesen.
Fremd mag sich auch Elisabeth Selbert gefühlt haben, als sie unter den 65 auserwählten Mitgliedern des Parlamentarischen Rates als eine von lediglich vier Frauen, an der Formulierung des künftigen Artikels 3 des zu schaffenden Grundgesetztes feilte. Die vorgeschlagene Formulierung wurde aus der Weimarer Verfassung übernommen und lautete: „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“.
Diese rein staatsbürgerliche Gleichstellung, die letztlich nicht mehr als das aktive und passive Wahlrecht umfasste, reichte Elisabeth Selbert jedoch nicht aus. Sie intervenierte und forderte eine sämtliche Rechtsgebiete umfassende, klare und eindeutige Formulierung. Sie wollte die Gleichstellung der Geschlechter „als imperativen Auftrag an den Gesetzgeber […] verstanden wissen“. Ihre Gedanken mündeten in der phrasenlosen und seinerzeit radikalen Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Dieses Postulat hätte weitreichende Auswirkungen gehabt und eine grundlegende Reformierung des Bürgerlichen Gesetzbuchs erzwungen, da die bestehenden Regelungen schlagartig verfassungswidrig gewesen wären.
Doch entgegen Elisabeth Selberts anfänglich optimistischer Annahme schien die überwiegende Mehrheit der Ratsmitglieder keineswegs gewillt, Frauen die uneingeschränkte Gleichberechtigung zu gewähren.
Am 30.11.1948 wurde Selberts Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ zur Abstimmung gestellt. Parallel wurde ein Vorschlag der CDU eingebracht, der da lautet: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muss Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln“. Was „Verschiedenes nach seiner Eigenart“ bezüglich der Realisierung von Gleichberechtigung in der Praxis bedeutet hätte, ließ sich unschwer voraussehen. Selbst Selberts Parteigenoss:innen waren von ihrer konsequenten Ausdrucksweise nicht uneingeschränkt überzeugt, da sie aufgrund der juristisch reichweitenden Folgen, den die Annahme des Entwurfs heraufbeschworen hätte, ein Rechtschaos befürchteten.
Nach anfänglichem Zweifel plädierten zumindest Selberts Parteigenossin Friederike Nadig und vereinzelte männliche Sozialdemokraten zögerlich für den Entwurf, während selbst die beiden weiteren im Parlamentarischen Rat vertretenen Frauen, Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum), die kompromisslose Gleichberechtigungsforderung nicht befürworteten, weshalb der Antrag in der 1. Lesung klar abgelehnt wurde.

Elisabeth Selbert / Dr. Peter Schneider – CC BY-SA 4.0
Elisabeth Selberts Haltung lässt sich gut im Vergleich zu der Position der Kommunisten, die mit zwei Vertretern im Parlamentarischen Rat vertreten waren, veranschaulichen. Diese waren zunächst auf ihrer Seite, wollten den Artikel aber um eine zusätzliche Formulierung, welche die Lohngleichheit betonte, ergänzen. Selbstverständlich befürwortete Selbert die unterschiedslose Entlohnung von Männern und Frauen, lehnte den Vorschlag dennoch ab. „Sie können sagen, was sie wollen… wenn wir anfangen zu kategorisieren, womöglich mit Formulierungen wie ´insbesondere`, haben wir verloren.“ Sie bestand auf einen klaren, unzweideutigen und kurzen Artikel.
Der angenommene Antrag der CDU („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muss Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln.“) musste noch dem Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates vorgelegt werden. Hierzu brachte die mit einer gewissen Sturheit ausgestattete Elisabeth Selbert ihren Vorschlag erneut ein. Doch wiederum unterlag sie und erklärte fassungslos: „In meinen kühnsten Träumen habe ich nicht erwartet, dass dieser Antrag abgelehnt würde. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass man heute weiter gehen muss als in Weimar und dass man den Frauen die Gleichberechtigung auf allen Gebieten geben muss. Die Frau soll nicht nur in staatsbürgerlichen Dingen gleichstehen, sondern muss auf allen Rechtsgebieten dem Mann gleichgestellt werden. Die Frau, die während der Kriegsjahre auf den Trümmern gestanden und den Mann an der Arbeitsstelle ersetzt hat, hat einen moralischen Anspruch darauf, so wie der Mann bewertet zu werden.“
Doch Elisabeth Selbert war durch die zweifach erlittene Niederlage keineswegs entmutigt. Im Gegenteil – sie initiierte eine scharfsinnig eingefädelte Kampagne. Mit tatkräftiger Unterstützung der SPD-Frauensekretärin Herta Gotthelf (1902 – 1963) gelang es ihr, mittels effektiver Pressearbeit und persönlicher Auftritte ihr Herzensthema in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und gezielt aufzubauschen.
Sie schreckte auch vor unverhohlenen Drohungen nicht zurück. „Sollte der Artikel in dieser Fassung abgelehnt werden, so darf ich ihnen sagen, dass in der gesamten Öffentlichkeit die maßgeblichen Frauen wahrscheinlich dazu Stellung nehmen werden, und zwar derart, dass unter Umständen die Annahme der Verfassung gefährdet ist.“ Da ursprünglich eine nie umgesetzte Volksabstimmung über die Verfassung vorgesehen war, spielte Elisabeth Selbert mit dieser Warnung darauf an, dass der nach dem Krieg mehrheitlich weibliche Teil der Bevölkerung in der Lage gewesen wäre, das Grundgesetz als Ganzes zu kippen.
Sie hielt Rundfunkansprachen, verbündete sich gegen den Willen ihres Parteivorsitzenden Kurt Schumacher mit überparteilichen Frauenorganisationen, suchte Verbündete über Parteigrenzen hinweg, reiste unermüdlich durch das Land, hielt Vorträge und mobilisiert Gewerkschafter:innen. Es war ein schmaler Grat, auf dem sie sich bewegte, denn um als einzelne Abgeordnete ein Ziel zu erreichen, war und ist es üblich, in vertraulichen Gesprächen, unter Einbeziehung des Fraktionsvorsitzenden, bestehende Differenzen und Hürden aufzulösen und nicht die breite Öffentlichkeit zu suchen.
Laut Selbert sollen den Parlamentarischen Rat aufgrund ihrer Kampagne „Waschkörbe mit Briefen“ erreicht haben, in denen die uneingeschränkte Gleichberechtigung gefordert worden sei. Doch diesen „Proteststurm der Frauen“ (Elisabeth Selbert) hatte sie, wie sich in späteren Forschungen zeigte, offenbar nicht unerheblich überhöht.
Laut der Historikerin Kerstin Wolff handelte es sich dabei um ein zwar geradewegs bühnengerechtes, aber dennoch verfälschtes Bild, denn lediglich etwa fünfzig Schreiben hätten tatsächlich nachgewiesen werden können. Sie kommt daher zu dem Schluss: „Es spricht viel für das politische Geschick und die gelungene Rhetorik Selberts, dass sie es trotz der ungünstigen Ausgangslage geschafft hat, die Forderung nach Gleichberechtigung durchzusetzen.“
Wie auch immer es ihr gelungen sein mag, die von Elisabeth Selbert initiierte Kampagne blieb nicht wirkungslos. Der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates nahm am 18.01.1949 ihre Formulierung, die bis heute im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht, einstimmig an: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“
Am darauffolgenden Tag richtete sich Elisabeth Selbert in einer Radioansprache, in der sie auf die Bedeutung dieses scheinbar schlichten Satzes hinwies, unprätentiös an die Bürger:innen der Bundesrepublik. „… dieser Tag war ein geschichtlicher Tag, eine Wende auf dem Wege der deutschen Frauen der Westzonen. Lächeln Sie nicht, es ist nicht falsches Pathos einer Frauenrechtlerin, das mich so sprechen lässt. Ich bin Jurist und unpathetisch und ich bin Frau und Mutter und zu frauenrechtlerischen Dingen gar nicht geeignet. Das Bürgerliche Gesetzbuch in seinen Tendenzen widerspricht in einer ganzen Reihe von Bestimmungen der Würde und der Wertigkeit einer persönlichkeitsbewussten Frau, die heute nicht mehr aus der Obhut und der Biedermeiersphäre eines guten Elternhauses, sondern aus dem harten Berufsleben heraus in die Ehe tritt und die in den langen Jahren und besonders in den letzten Jahren die ganze Härte des Lebens erfahren hat. Können Sie daher ermessen, was die Gleichberechtigung bedeutet und welches Empfinden der gestrige Tag gerade auch in mir ausgelöst hat?“
Die Originalaufnahme der Ansprache wird im Deutschen Rundfunkarchiv verwahrt und ist unterlegt mit historischem Bildmaterial unter folgendem Link zu hören: https://www.daserste.de/unterhaltung/film/sternstunde-ihres-lebens/specials/audio-selbert-100.html
Einem dieser Berufsgruppe wohlbekannten Impuls folgend, beteuerten sämtliche Parteien und Politiker:innen nach der Abstimmung, sie seien im Grunde schon immer Befürworter des soeben verabschiedeten Artikels gewesen. Es sei „so viel Sturm entstanden, dass wir gedacht haben – es liegt uns ja gar nichts an einer bestimmten Formulierung“, wollte Helene Weber (CDU) nun erkannt haben. Und der spätere Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) flunkerte, die Kampagne habe die FDP nicht im Geringsten beeindruckt. „Denn unser Sinn war von Anfang an so, wie sich die aufgeregten Leute draußen das gewünscht haben.“
Elisabeth Selbert hatte ihr Ziel, die Gleichberechtigung als Verfassungsgrundsatz zu formulieren, erreicht. Somit waren viele der damaligen, auf das Jahr 1896 zurückgehenden familienrechtlichen Bestimmungen, wie das Recht des Mannes, über den gemeinsamen Wohnort zu bestimmen, über das von der Frau verdiente Geld zu verfügen, der Ehefrau die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit zu untersagen und vieles mehr verfassungswidrig und mussten aufgehoben oder reformiert werden.
Dem zukünftigen Bundestag wurde die Verpflichtung auferlegt, bis zum März 1953 den neuen Verfassungsartikel in konkrete Gesetzte umzusetzen.
Es war Elisabeth Selbert bewusst, dass die konkrete Umsetzung des Erreichten erneut mühevoll sein würde, weshalb sie ihre Landsfrauen eindringlich beschwor: „Mein Appell gilt den Frauen, die diese Zusammenhänge noch nicht gesehen haben, die politisch noch nicht erwacht sind, und eine große Aufgabe ist es für den kommenden Bundestag, auch für die Frauen, die Reform des Gesetzes mitzuerarbeiten.“
Tatsächlich ließ die Regierung unter Kanzler Adenauer den gesetzten Termin am 31. März 1953 tatenlos verstreichen …