Unterwegs in… Kreuzberg
Rio Reiser – Teil 1: Bleib wo Du bist

„Über weiche Wiesen tanzt du,
die Welt ist noch so weit
Treibst sorglos in die Zukunft
und weißt nichts von Vergangenheit“
(aus: Ton Steine Scherben – „Bleib wo du bist“)

Es war im Jahr 1986, als ich als junger Teenager im Sessel meines Zimmers die Musik- und Sketchshow „Känguru“, mit der dem jungen Hape Kerkeling der Durchbruch gelang, verfolgte, als meine Aufmerksamkeit von einem jungen Mann in einem weit aufgeknöpften weißen Hemd geweckt wurde, der aufgekratzt zappelig tanzte und dazu einen lustigen, ironischen Text sang. Noch bevor der damals noch existente Sendeschluss einsetzte, beschloss ich, am darauffolgenden Tag die entsprechende Single im nahe gelegenen Plattenladen zu erstehen. Dass ich mit dem Produkt keineswegs das Werk eines Newcomers der Neuen Deutschen Welle in den Händen hielt, sondern den Song eines seit Jahren aktiven Musikers und Texters, der bereits auf eine überaus bewegte Vergangenheit zurückblicken konnte, erschloss sich mir erst allmählich.

Cover „König von Deutschland“
Während des 2. Weltkriegs floh die Familie Möbius, die als Mitglied der „Bekennenden Kirche“ in Opposition zum Hitlerregime stand, aus dem heimischen Berlin, um bei Freunden in Franken Unterschlupf zu finden. Nach dem Ende des Krieges kehrten sie in die Hauptstadt zurück, wo für die Weihnachtstage 1949 die Geburt ihres nach Peter und Gert dritten Sohns angekündigt war, der sich jedoch ein wenig mehr Zeit nahm und 30 Jahre später in dem Song „Bleib wo du bist“ an ein Ungeborenes gerichtet sang: „Du, noch nicht verfroren, noch nicht verloren, noch ungeboren. Und ahnungslos, sicher im Schoß. Was wird geschehen, wenn sie dich sehen? Bleib, wo du bist.“
Am 9. Januar 1950 erblickte Ralph Möbius, den später alle Rio nennen würden, in der Brückenallee 17 endlich das Licht der Welt. Die Brückenallee verband die Altonaer Straße mit der Moabiter Brücke und ist heute auf keinem Stadtplan mehr zu finden, denn das im Krieg weitreichend zerstörte Hansaviertel wurde in den 1950er-Jahren neugestaltet und manch alter Straßenzug musste Parkflächen, neu entstandenen Gebäuden oder Erschließungswegen weichen.
Auf dem Foto der Geburtsanzeige, das Vater Herbert geschossen hat, schaut der kleine Ralph recht missmutig in die Welt. „Boah hast du große Glubscher“, soll seine Tante ausgerufen haben, als sie ihn erstmals zu Gesicht bekam. In der Tat hatte er große Augen, mit denen er fortan neugierig in die Welt blickte.
Vater Möbius war Ingenieur und konstruierte Kartonverpackungen bei der Siemens AG. Infolge seiner Versetzung musste die Familie bereits ein Jahr nach Rios Geburt Berlin verlassen und zog nach Traunreut in Oberbayern.
In der Erinnerung seiner Mutter war Rio ein „vergleichsweise pflegeleichtes Kind“. Er wirkte sensibel, war zufrieden, wenn er alleine spielen oder malen konnte und zeigte nur wenig Interesse an anderen Kindern. Um dieser Eigenheit entgegenzuwirken, wollte Mutter Erika ihn mit Gleichaltrigen in Kontakt bringen und meldete Rio im Kindergarten an. Doch er zeigte keinerlei Interesse und lehnte den Besuch derart vehement ab, dass der Versuch nach wenigen Wochen abgebrochen wurde.
Als Rio fünf Jahre alt war, zog die Familie erneut um. Das neue Ziel lautete Brühl in Baden-Württemberg, wo 20 Jahre später Steffi Graf zum ersten Mal einen Tennisschläger in der Hand hielt und in der Folge ihrem Heimatort zu überregionaler Bekanntheit verhalf. „Fast alle Erinnerungen an Brühl sind positiv besetzt“, erinnerte sich Rio später. Er mochte die Natur, den Bach, an dem er gespielt hat und behielt den „sumpfigen Altrhein mit vielen kleinen Inseln, total verwildert“ im Gedächtnis. Stundenlang habe er am Rhein gesessen, die großen Schiffe vorbeifahren sehen und über die Wellen, die sie hervorriefen, gestaunt.
Doch diesen zauberhaften Ort musste die Familie schon bald wieder verlassen und zog in Richtung Stuttgart, wo sie in Fellbach-Schmiden ein neues zu Hause fand. Rio reagierte auf den erneuten Umzug mit weiterem Rückzug und lehnte die neue Umgebung entschieden ab, wobei sein Protest vornehmlich den Schulbesuch betraf. „Nach zwei, drei Tagen Unterricht hatte ich die Schnauze voll.“ Unter Tränen wurde er von seiner Mutter und seinen Brüdern in das Schulgebäude geleitet. „Es wollte mir einfach nicht in den Kopf rein, wie man jemanden zwingen kann, irgendetwas zu tun“, erinnerte sich Rio.
Als erheblich angenehmer erlebte er sein familiäres Umfeld. Erika Möbius war eine äußerst musische Frau und hörte viel Musik jeglicher Art. Ihr Geschmack umfasste Klassik, Volksmusik und Schlager, wobei sie Marlene Dietrich besonders verehrte. Diese Vorliebe sprang auf Rio über, der zeit seines Lebens einen sehr vielfältigen Musikgeschmack aufwies und als eine seiner ersten Schallplatten „Bitte geh nicht fort“ von Marlene Dietrich erstand.
Rios Bruder Gert befand sich mittlerweile in seiner Ausbildung und erstand von seinem ersten eigens verdienten Geld zur Begeisterung seines jüngeren Bruders, der zu jener Zeit seine Vorliebe für die Musik von Georg Friedrich Händel entdeckte, einen Plattenspieler. Hatte sich Mutter Erika für ihren jüngsten Sohn, da er „ein Rechthaber und Haarspalter“ gewesen sei, zunächst die Berufslaufbahn eines Rechtsanwalts vorgestellt, korrigierte sie ihre Meinung, als Rio begann, seine eigene mit Wortspielen und Witzen über Politiker gespickte Zeitung zu schreiben. Womöglich war der Journalismus ein geeignetes zukünftiges Arbeitsgebiet. Doch Rio entdeckte mehr und mehr die Musik für sich und brachte sich am heimischen Klavier selbstständig Lieder wie „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ und „Lili Marleen“ bei. Für Rio stand fest, dass er Musiker werden wollte.
Dem ungeliebten Fellbach-Schmiden konnte er nach wenigen Jahren den Rücken kehren, da die Familie nach Nürnberg-Erlenstegen umzog. Vater Herbert hatte sich beruflich offenbar verbessert, denn er konnte seiner Familie fortan eine 5-Zimmer-Wohnung in einer ansehnlichen Stadtvilla bieten. Die häufigen Versetzungen seines Vaters führten dennoch dazu, dass es Rio in seiner Kindheit kaum gelang, sich an irgendeinem Ort zu Hause zu fühlen und langfristige Freundschaften zu schließen.
In Nürnberg besuchte er das traditionsreiche, 1526 vom Reformator Philipp Melanchthon gegründete Melanchthon-Gymnasium, das als das älteste Gymnasium im deutschsprachigen Raum gilt und vom Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel von 1808 bis 1816 als Direktor geleitet wurde. Hans Magnus Enzensberger und seine Brüder besuchten die Lehranstalt und kurz bevor Rio dort die Schulbank drückte, hatte der kürzlich verstorbene und zuletzt als „Rentnercop“ im TV aufgetretene Tilo Prückner, der heute in unmittelbarer Nähe zu Rio begraben liegt, an gleicher Stelle sein Abitur abgelegt.
Die Entscheidung für genau diese Schule fiel auch aufgrund der allseits geläufigen Wertschätzung für die musische Ader ihrer Schüler, die Rios Vorlieben zu entsprechen schien. Im Hause Möbius herrschte grundsätzlich eine künstlerfreundliche Atmosphäre. So wurde beim gemeinsamen Essen gerne über Dichtung, Musik und Kunst geplaudert. Tatsächlich erhielt Rio im Fach „Musik“ sehr gute Noten, während er in den übrigen Bereichen als ein wenig verträumt galt. Neben der Musik konnte einzig die Religion sein Interesse wecken. Rio begann intensiv in der Bibel, deren Sprache ihn faszinierte, zu lesen, was er sein Leben lang beibehielt. Er führte auf Reisen und Tourneen stets eine Bibel im Koffer bei sich, konnte jedoch in der institutionellen Kirche keine Heimat finden, weshalb er trotz seines Glaubens und monetärer Verlockungen die Konfirmation verweigerte.
Als er 14 Jahre alt war, wurde die Familie zu einer goldenen Hochzeit nach Berlin eingeladen, wo Rio im Badezimmer eine für ihn wegweisende Entdeckung machte. „Ich erblickte auf der Badewannenkante neben dem Klo einen Stern [das bekannte Wochenmagazin; Anm. d. A.]. Und dieser Stern brachte mir eine wahre Erleuchtung: Ein großer Artikel über die Pilzköpfe stach mir ins Auge. (…) Da war bei mir der Ofen aus. (…) und dann waren da Bilder drin von Liverpooler Teenies. Von Mädchen und Jungs, alle mit langen Haaren. (…) Alles, was ich gesucht hatte, war plötzlich da.“ Wohlgemerkt hatte Rio bis zu jenem Zeitpunkt noch keinen einzigen Ton von den Beatles gehört. Allein der visuelle Eindruck fesselte ihn derart, dass er zurück zu Hause so viel Radio wie möglich hörte, um endlich die Musik, die sich aus Liverpool in die ganze Welt verbreitete, kennenzulernen. Plötzlich ertönte „I want to hold your hand“ und Rio erkannte augenblicklich, dass dieser Sound einzig von den vier Jungs stammen konnte, die er wenige Tage zuvor in der Zeitschrift entdeckt hatte. „Ich hatte viel gehört, da bei uns zu Hause kein Musikstil verpönt war, aber nichts Vergleichbares.“ Er hatte das sichere Gefühl: „Das war der Klang der Zukunft“.
Zum anfänglichen Entsetzen seiner Eltern brach Rio die Schule am Melanchthon-Gymnasium ab, um stattdessen eine Ausbildung in einem Fotostudio in Offenbach zu beginnen. Doch seine große Leidenschaft galt weiterhin der Musik und er brachte sich selbst das Cello-, Gitarre- und Klavierspielen bei. Seine beiden älteren Brüder hatten mittlerweile ein Wandertheater gegründet, zogen mit Traktor und Anhänger durch Bayern und versuchten, die oftmals konservative Landbevölkerung mittels ihrer Darstellungen für die sozialen Verhältnisse in Deutschland zu sensibilisieren. Rio baten sie, sich musikalisch einzubringen. Für diesen Zweck dachte sich Rio einen Künstlernamen aus und nannte sich David Volksmund.
Zu jener Zeit nahm ihn sein Bruder Gert mit in einen Jugendclub, in dem eine Band auftrat. Im Verlaufe des Abends überredete er Rio auf die Bühne zu gehen und zwei Songs zu performen. Es war Rios erster Auftritt als Sänger und dem Publikum gefiel, was es sah und hörte, sodass manch einer im Raum getuschelt haben soll: „Der singt ja wie Mick Jagger.“
Kurz darauf, Rio war gerade 16 Jahre alt geworden, lernte er den – zumindest außerhalb der Familie – vermutlich wichtigsten Menschen in seinem Leben kennen. Als es an seiner Tür klingelte, stand dort Ralph Pierre Seitz – genannt R.P.S. Lanrue – der in einer Band spielte, auf der Suche nach einem Sänger war und Rio fragte, ob er Interesse hätte, die vakante Bandposition einzunehmen. Selbstredend stieg Rio bei den Beat Kings ein, gründete jedoch noch im selben Jahr mit Lanrue gemeinsam die Rockband De Galaxis, in der sie neben Coverversionen bekannter Songs gelegentlich auch eigene Stücke spielten. Rio war sich mittlerweile gewiss, dass es die Musik war, mit der er zukünftig seinen Lebensunterhalt bestreiten wollte. Er brach kurzerhand seine Ausbildung ab und meldete sich am Offenbacher Konservatorium an, um Cello, weil es ein optisch wie akustisch schönes Instrument sei und bei „Yesterday“ die schönste Melodielinie spiele, zu studieren.
Seine beiden Brüder lebten mittlerweile in Berlin, wo sie rasch Anschluss an die dortige Theaterszene finden konnten und ein bedeutendes Projekt vorbereiteten. Sie beabsichtigten nicht weniger als die erste Beatoper der Welt unter dem Titel „Robinson 2000“ auf die Bühne zu bringen und konnten Klaus Hoser, den Leiter des Forum-Theaters überzeugen, das ambitionierte Vorhaben zu finanzieren. Sie baten Rio nach Berlin zu kommen, um die Musik zu komponieren und auch wenn Berlin auf Rio wenig Anziehungskraft ausstrahlte, folgte er den Bitten und bestieg erstmals in seinem Leben ein Flugzeug. In Berlin teilte er sich in der Uhlandstraße mit seinen Brüdern einen großen Raum, der über eine Hintertreppe zu erreichen war. Dort schrieb Peter euphorisch an dem Text, während Gert sich um das Bühnenbild kümmerte und Rio Songs im Stil der Rolling Stones komponierte.
Auf den Straßen Berlins kämpfte derweil die aufziehende Studentenbewegung gegen die Große Koalition, die Notstandsgesetze, den Vietnamkrieg, den Einfluss des Axel-Springer-Verlags und für eine tiefgreifende Bildungsreform. Doch Rio, der sich mit den ausgerufenen Zielen durchaus verbunden fühlte, war für die Studentenbewegung nicht sonderlich empfänglich. Er nahm die oftmals verwendete Sprache als „zu dröge“ wahr und fand keinen Zugang zu dem zur Schau getragenen akademischen Intellektuellendeutsch, mit dem auch vermeintlich offensichtliche Sachverhältnisse möglichst komplex ausgedrückt wurden. Demzufolge beteiligte er sich nicht an Demonstrationen. „Ich hatte Angst nen Knüppel auf dem Kopf zu kriegen, ohne zu wissen wofür.“
Somit verfolgte er auch am 2. Juni 1967 ausschließlich aus dem Panoramafenster des Forum-Theaters die Demonstrationen gegen den Staatsbesuch von Schah Mohammad Reza Pahlavi. Wieder und wieder drangen schrille Martinshörner an sein Ohr, die sich mit hallenden „Hồ Chí Minh“-Rufen abwechselten. Als Rio sich abends auf den Weg nach Hause machen wollte, war die Straße voller Menschen. „Überall standen Grüppchen rum, es wurde diskutiert, und da habe ich erfahren, dass einer erschossen worden sein soll. Das hat mich auf die Palme gebracht; von der Polizei erschossen.“

Benno Ohnesorg, 2. Juni 1967 (public domain)
Das Opfer war der Student Benno Ohnesorg, der von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras durch einen Pistolenschuss aus kurzer Distanz in den Hinterkopf getötet wurde. Auch für Kai Sichtermann, den späteren Bassisten in Rios Band, stellte dieser Tag einen Wendepunkt dar. „Damit wurde eine rote Linie überschritten. An diesem Tag wurde die Saat der Gewalt gesät, und zwar ausgehend vonseiten des Staates.“

Studierende der Christian-Albrechts-Universität protestieren nach dem Tod von Benno Ohnesorg (05.06.1967)
(Magnussen, Friedrich (1914-1987) – CC BY-SA 3.0 de)
Für ihre Beatoper gelang es den Brüdern Möbius den englischen Popsänger David Garrick zu gewinnen, der soeben mit „Dear Mrs. Applebee“ einen Nummer 1 Hit gelandet hatte. Ebenso konnten der österreichische Musiker Peter Horton sowie die Schlagersängerin Marion Litterscheid zu ihrer Teilnahme an dem Projekt überzeugt werden. Eine Woche lang durften sie das renommierte Theater des Westens bespielen, das am Premierenabend von dem Stones-Schlagzeuger Charlie Watts, Pete Townshend und Ray Davies von den Kinks besucht wurde. Doch trotz aller Mühen fielen die Kritiken verheerend aus und auch wenn der Ticketverkauf passabel lief, entwickelte sich das Projekt zu einem finanziellen Desaster.

David Garrick, 1967
(VARA – FTA001008954 008 con.png Beeld en Geluidwiki – Gallery: Fanclub / CC BY-SA 3.0 nl)
Rio stand vor der Frage, ob er fortan seine begonnene Ausbildung in Nürnberg fortsetzen oder in Berlin verbleiben wollte, wobei die letztere Möglichkeit den verlockenden Vorzug aufwies, mit dem Umzug der Bundeswehr entgehen zu können. Somit beschloss er, obwohl er die Stadt nicht sonderlich mochte, sich vorerst in Berlin niederzulassen, wo er zunächst gemeinsam mit Gert eine bescheidene Wohnung mit Gemeinschaftsbad und -küche in Schöneberg bezog, an der es eines Tages klopfte und Lanrue mit einem Koffer in der Hand vor der Tür stand.
Dieser platze in eine aufgewühlte, explosive Atmosphäre. 1968 entwickelte sich die heutige Rudi-Dutschke-Straße, die damals noch ein Abschnitt der Kochstraße war, zu einem der Hauptschauplätze der sogenannten „Osterunruhen“. Aufgebrachte Demonstranten versuchten nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, dem Wortführer der Studentenbewegung, die Auslieferung der Zeitungen des Axel-Springer-Verlags zu verhindern und lieferten sich mit der Polizei die größte Straßenschlacht, die die BRD bis dahin gesehen hatte.

Pflasterstein mit Anstecker „Enteignet Springer“, 1969
(Sammlung Kindheit und Jugend – Stiftung Stadtmuseum Berlin)
Das 19-geschossige und 78 Meter hohe Axel-Springer-Hochhaus in Berlin-Kreuzberg wurde 1966 eingeweiht. Die Rückseite des goldfarbenen Gebäudes grenzte unmittelbar an die Berliner Mauer, was der mächtige, konservative und umstrittene Zeitungsverleger Axel Springer als bewussten symbolischen Akt und politischen Auftrag verstand. In den 1990er Jahren wurde das Hochhaus um einen um 90 Grad versetzten zweiten, ganzflächig verglasten Flügel ergänzt.

Blick von Ost-Berlin auf das Springergebäude
(Leon Petrosyan, CC BY-SA 3.0)

Das Springer-Hochhaus heute
Axel Springer hat sich jahrelang dagegen zur Wehr gesetzt, dass sein Verlagshaus an einer an sein personifiziertes Feindbild erinnernden Straße liegen soll. Doch nach diversen politischen und juristischen Auseinandersetzungen fand die durch die überregionale Tageszeitung taz angeregte Umbenennung eines Abschnitts der Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße am 30. April 2008 offiziell statt.
Als ich die politisch einst brisante und umstrittene Straßenkreuzung Rudi-Dutschke-Straße / Axel-Springer-Straße erreiche, empfinde ich die damalige Straßenumbenennung als nicht mehr als einen Pyrrhussieg, denn bereits die Größenverhältnisse scheinen die bestehenden Machtverhältnisse unmissverständlich auszudrücken. Zudem sendet eine 50 Meter lange und vier Meter hohe LED-Videowand in 80 Meter Höhe rund um die Uhr die Propaganda des Springerkonzerns über die Hauptstadt und erleuchtet selbst nachts das Fenster meines nahe gelegenen Hotelzimmers.

Rudi-Dutschke-Straße
Die Ereignisse in den 1960er-Jahren politisierten auch den Politiker Hans-Christian Ströbele nachhaltig: „Am 2. Juni 1967 wurde Benno Ohnesorg in Westberlin nach einer Demo gegen den Schah vom Polizisten Kurras erschossen. Auch für mich ein Schicksalstag. Ich erinnere. Aus Empörung und Wut wurde ich politisch aktiv und schloss mich der APO an. So fing alles an.“
Der einstige stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen gewann als jeweils einziger Vertreter seiner Partei viermal hintereinander das Direktmandat für den Bundestag im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Auch wenn diese beispiellosen Wahlergebnisse gewiss mit den Sympathie- und Glaubwürdigkeitswerten des Politikers Ströbele zusammenhängen, lässt sich ebenso aus dem Wahlergebnis der Bundestagswahl 2017, aus der Die Linke mit 28 % gefolgt von Den Grünen mit 20 % als stärkste Partei hervorging, ablesen, dass im Bezirk Kreuzberg bis zum heutigen Tag eine außergewöhnliche politische Stimmung herrscht.
Rio, seine Brüder und einige weitere Mitstreiter wollten die damalige aufgeheizte Atmosphäre aufgreifen und mittels politischem Straßentheater, das mit Improvisationen, Publikumsbeteiligung und Musik angereichert war, den Arbeitern, Lehrlingen und Unterprivilegierten eine Ausdrucksform bieten.
Das ZDF beabsichtigte, auf die Stimmung der Jugend einzugehen, ihr ein eigenes Programm zu bieten und sie zu Wort kommen zu lassen. Der Sender beauftragte einen jungen Redakteur und Moderator namens Alfred Biolek, eine entsprechende Sendung zu produzieren. Dieser stieß bei seinen Recherchen auf die Möbius-Brüder, rief die überraschte Theatergruppe an, schilderte ihnen seine Pläne und lud sie nach Mainz ein. Das Resultat war ein schräges Fernsehmusical mit dem Titel „Drehorgelwalzenwelthit“, für das Rio die Musik komponierte und der Sender namhafte Darsteller wie Karl Dall, Ingo Insterburg und Dunja Rajter gewinnen konnte. Die Resonanz fiel ähnlich desaströs aus wie zuvor bei der ambitionierten Beat-Oper, doch machte es die Gruppe bundesweit bekannt und zumindest Alfred Biolek gefiel das Projekt. Auch Ilse Werner, die sich zufällig am Set aufhielt, schien insbesondere von Rio verzückt zu sein und bescheinigte ihm ein außergewöhnliches Talent.
1969 zog Rio mit seinen Brüdern nach Kreuzberg in die Oranienstraße, auf der ich an einem sonnigen Sonntagvormittag entlangspaziere. Ich bin erstaunt, wie wenig belebt zu dieser Tageszeit eine pulsierende Metropole wie Berlin ist, aber auch erschrocken, wie viele Menschen mir auf den noch weitestgehend leeren Straßen um diese Tageszeit statt mit einem zu erwartenden dampfenden Kaffeebecher mit einer Bierflasche in der Hand entgegenkommen.
Ich erreiche die Oranienstraße 45, ein vierstöckiges, hellblau gestrichenes Mietshaus, in dem Rio einige Jahre gelebt hat. Zwischen einem Antiquariat und einer Anlaufstelle für von Abschiebung bedrohter MitbürgerInnen führt ein Durchgang zum Hinterhof, der bedauerlicherweise durch ein Zahlencodefeld gesichert ist.

Oranienstraße 45
Von der gegenüberliegenden Straßenseite ruft mir ein erkennbar angetrunkener Mann, den ich auf etwa 30 Jahre schätzen würde, freundlich zu: „Hey, was machste heute noch?“ „Das weiß ich noch nicht so genau“, antworte ich wahrheitsgemäß, woraufhin er mir mit weit ausgebreiteten Armen entgegnet: „Es steht dir alles offen. Du kannst gehen, wohin du willst!“ … „Ich zahle auch“, fügt er lachend hinzu. „Das glaub ich Dir nicht“, rufe ich ihm zu. Er geht lachend und lauthals rufend seiner Wege: „Der Kapitalismus ist das Problem!“
Das Bezahlen stellte für Rio und seine Mitbewohner sicherlich auch eine nahezu tägliche Herausforderung dar. Sie lebten im Hinterhof des Gebäudes, vor dem ich stehe, über einem Stadtbad, in dem sie für 1,50 DM pro 15 Minuten eine Badewanne mieten konnten, denn ein eigenes Bad oder Küche wies ihre Wohnung, in der die Heizung nur gelegentlich funktionierte, nicht auf.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erblicke ich das traditionelle Wirtshaus „Max & Moritz“, das bereits 1902 seine Pforten geöffnet hat und in dem Rio und seinen Brüdern gelegentlich zu Gast waren, um bei einem Glas Berliner Pilsner Pläne zu schmieden.

Max und Moritz, Oranienstraße
Kreuzberg mutete seinerzeit wie eine eigene Welt an und Rio gefiel es an seinem neuen Wohnort sofort. In diesem Teil der Stadt schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Wunden, die der Weltkrieg hinterlassen hat, waren sichtbar und die Vergangenheit spürbar. „Ein Arbeiterbezirk am Arsch der Welt. Kreuzberg war nicht Berlin! Kreuzberg war Kreuzberg“, beschrieb Rio die neue Umgebung.
Der Bezirk Kreuzberg erhielt seinen Namen in Anlehnung an ein 1821 im Viktoriapark, einer Grünanlage mit der höchsten natürlichen Erhebung Berlins, errichtetes Nationaldenkmal, das an die Gefallenen der Befreiungskriege erinnert. Der Architekt Karl Friedrich Schinkel (1781-1841), dessen Bauwerke noch heute das Stadtbild Berlins prägen, hat die 20 Meter hohe, gusseiserne Spitzsäule im Stil der Neugotik entworfen. Erst bei der feierlichen Einweihung im Beisein internationaler Gäste und Staatsrepräsentanten erhielt der Hügel, auf dem das Denkmal errichtet wurde, in Anspielung auf das eiserne Kreuz an dessen Spitze den Namen „Kreuzberg“.

Nationaldenkmal für die Befreiungskriege
Weitaus bescheidener wirkt das Denkmal am Oranienplatz. Ich blicke auf eine zwei mal drei Meter große Metallplatte, auf der ein leerer, knapp einen Meter hoher Betonsockel fußt. Auf dem an der Bodenplatte verschraubten Edelstahlschild lese ich: „In Gedenken an die Opfer von Rassismus und Polizeigewalt“. Der leere Sockel erinnert mich an die in der jüngeren Vergangenheit weltweit gestürzten Kolonialdenkmäler und offenbart die Leere, die jene Menschen hinterlassen haben, die von der Polizei unter oftmals nicht geklärten und häufig nicht näher untersuchten Umständen getötet wurden.

Mahnmal für die Opfer von Rassismus und Polizeigewalt
Ursprünglich sollte am 26. September 2020 an diesem Ort für die Schaffung eines derartigen Mahnmals demonstriert werden, doch als die ersten KundgebungsteilnehmerInnen am Vormittag am Oranienplatz eintrafen, staunten sie nicht schlecht, als sie dieses bereits vorfanden. Unbekannte hatten die nächtliche Dunkelheit genutzt und Tatsachen geschaffen. Ob das Objekt an Ort und Stelle verbleiben wird, ist noch umstritten. Eine Petition für den Verbleib des Mahnmals hat bereits weit mehr als 6000 Unterstützer gefunden.
Keine hundert Meter von hier entfernt entwickelte sich die „Oranienburg“, wie Rio seine neue Adresse nannte, zum zentralen Treffpunkt der Theatergruppe. Es bestand Einigkeit darin, etwas kreieren zu wollen, das unmittelbar mit den Menschen vor Ort und ihrer Lebenswirklichkeit zu tun hatte, ohne diese zu belehren. Auf eine Bühne wurde bewusst verzichtet, stattdessen auf der Straße gespielt und ausgehend von aktuellen Schlagzeilen versucht, Aufmerksamkeit zu wecken und spontan ein Publikum zu finden. Dieses sollte während der Aufführung zu Diskussionen angeregt werden, um letztlich in den Ablauf des Stückes aktiv einzugreifen. Zwischen den einzelnen Szenen wurde musiziert, wofür vorrangig Rio und Lanrue verantwortlich zeichneten. Doch Rio, der seit seinen frühen Jugendtagen Musiker werden wollte, sah in dem Theaterprojekt zunehmend weder künstlerisch noch finanziell eine verheißungsvolle Perspektive.
An einem sonnigen Frühlingstag im Jahr 1970 besuchte Rio den Bassisten Kai Sichtermann und Lanrue, die gemeinsam in der Goebenstrasse wohnten. Laut Kai entwickelte sich aus diesem Besuch „eine denkwürdige Nacht mit Meskalin.“ Das Meskalin hatte Rio besorgt und so starrten die drei, berauscht von der Wirkung der Droge, an die mit exotischen Vögeln bemalte Decke, lauschten dem psychedelischen Pink Floyd-Album „Ummagumma“ … und beschlossen eine Band zu gründen.
Noch fehlte der Formation ein Name, zu dessen Findung ein Treffen in der „Oranienburg“ anberaumt wurde. Laut Rios Angaben leitet sich „Ton Steine Scherben“ aus einem Zitat des Troja-Entdeckers Heinrich Schliemann ab, der formulierte: „Was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben“. Das klingt zwar charmant und originell, ist aber ziemlich sicher frei erfunden, denn die übrigen Beteiligten, neben Kai und Lanrue war Wolfgang Seidel als Drummer hinzugestoßen, erinnern die Namensgebung wie folgt: Jeder durfte beliebig viele Vorschläge aufschreiben, sodass irgendwann etwa 80 Zettel mit jeweils einer Idee auf dem Tisch lagen. Nun wurde jeder Vorschlag einzeln aufgerufen, wobei dieser als abgelehnt galt, wenn auch nur ein Anwesender ein Veto einlegte. Am Ende blieben „Schwarze Wolke“ und „VEB Ton Steine Scherben“ übrig. Man einigte sich darauf das „VEB“ zu streichen und somit war die Band „Ton Steine Scherben“ geboren.
Neben der „Oranienburg“ entwickelte sich die ebenfalls in der Oranienstraße gelegene und mit dem Slogan „Treffpunkt der Jugend“ werbende Pizzeria Samira zum „Vereinshaus“ der neu gegründeten Band. Zahllose Abende wurden hier in der ersten Pizzeria Kreuzbergs verbracht, Pläne gefasst, Wein getrunken, sich aufgewärmt, wenn die eigene Heizung mal wieder ausgefallen war und wer gegenwärtig über keine feste Wohnung verfügte, durfte sich mit stillem Einverständnis des libanesischen Inhabers nach Geschäftsschluss auf den Bänken im Gastraum für ein erholsames Nickerchen ausstrecken.
Heute existiert das Samira nicht mehr und man findet stattdessen an der althergebrachten Adresse ein türkisches Restaurant.

Das einstige Samira, Oranienstrasse 2
Türkische Restaurants, Imbisse und Cafés stehen in Kreuzberg reichlich zur Verfügung, sodass die Auswahl, möchte man die Küche dieser Region genießen, schwerfällt. Ich entscheide mich anhand der Kundschaft und wähle eine Gaststätte, unter deren Besuchern ich ausschließlich südosteuropäisch wirkende Personen ausmachen kann, was mir kulinarisch – zurecht, wie ich bald feststellen kann – vertrauenerweckend erscheint. Da ich unter der Kundschaft bereits rein äußerlich auffalle, wecke ich schon bald das Interesse der übrigen Gäste und finde mich wenig später umringt von freundlichen Türken und Libanesen an einem großen Tisch wieder und werde großzügig mit Tee bewirtet, der im weiteren Verlauf des Abends durch Raki ersetzt wird. In den Gesprächen erfahre ich viel über Kreuzberg und die Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte, bis nach einem kurzen Telefonat des Wirtes auch der einstige Besitzer des Samiras zu uns stößt. Der äußerst liebenswürdige Palästinenser schildert mir, dass er 1976 mit seinem Bruder die Pizzeria gekauft habe. „Weißt Du noch, wie wir damals das Trümmergrundstück gleich nebenan genannt haben“, wirft ein Gast schmunzelnd ein. Alle lachen und ich erfahre, dass in Kreuzberg die besagte Baugrube unter dem Namen „das Arschloch“ bekannt war, da es in den Augen der Bewohner nichts weiter als ein ungenutztes, sinnloses Loch war. „Im Grunde ist es das bis heute geblieben“, höre ich unter Gelächter und wir trinken einen Raki auf „das Arschloch“.
Im weiteren Verlauf des Abends wird mir berichtet, dass viele Menschen infolge des Mauerbaus, der Kreuzberg nahezu eingeschlossen hatte, den Bezirk verlassen hätten, sich dann aber in den späten 1960er und 1970er-Jahren eine linke Szene, die den erschwinglichen Wohnraum zu nutzen wusste, vor Ort etabliert habe. Zeitgleich hätten vorrangig türkischstämmige Gastarbeiter, mit denen und deren Nachfahren ich hier zusammensitze, die leerstehenden Wohnungen und Mietshäuser bezogen. Bald darauf habe sich die legendäre Kreuzberger Hausbesetzerszene entwickelt, auf die Rio und die neu gegründete Band Ton Steine Scherben einen enormen Einfluss gehabt hätten und zu der stets eine gute, sich gegenseitig unterstützende Beziehung bestanden habe, weshalb das Samira, wie mir augenzwinkernd mitgeteilt wird, bei der alljährlichen Randale am 1. Mai regelmäßig verschont geblieben sei.
Viel habe sich in den vergangenen Jahren verändert. Mit dem Fall der Mauer sei Kreuzberg von einem abgeschiedenen Randbezirk in das Zentrum Berlins gerückt, was Gentrifizierungseffekte zur Folge gehabt habe, wodurch sich der Bezirk nach und nach zu einem Szeneviertel wandle. „Aber“, so ist man sich am Tisch einig: „SO 36 bleibt bestehen!“
Die Bezeichnung SO 36 bezieht sich auf den einstigen Poststellbezirk „Südost 36“, der sich zwischen Spree, Landwehrkanal sowie dem heute zugeschütteten Luisenstädtischen Kanal erstreckt hat und somit genau jenes Gebiet umschreibt, in dem Ton Steine Scherben aktiv waren, von dem sie beeinflusst wurden und das die Band im mindestens gleichen Maße beeinflusst hat.
Für ihr erstes Projekt mussten sie den Bezirk SO36 um kaum mehr als 200 Meter verlassen. Am Kottbusser Damm entdecke ich zwischen einem Pfandleiher, türkischen Imbissen und einem Ein-Euro-Laden eine Durchfahrt, über der ein Schild auf das Ballhaus Rixdorf hinweist.

Kottbusser Damm 74
Der Namenszug könnte auf ein mondänes Tanzlokal aus der Gründerzeit im Art déco-Stil aufmerksam machen, doch ich befinde mich hier im wenig eleganten „Reuterkiez“, der mit einer Arbeitslosenquote von 35 %, einem Ausländeranteil von 30,5 % sowie einer hohen Anzahl an Verbrechen, als sozialer Problembereich Berlins gilt. Ich durchquere die mit bunten Showplakaten sowie Werbezetteln von Esoterik-Veranstaltungen überzogene Zufahrt und trete in einen Hinterhof, wo sich das angekündigte Ballhaus als ein trostlos wirkender hoher Betonklotz mit kaputten oder gänzlich fehlenden Fensterscheiben entpuppt, das seine besten Zeiten offensichtlich hinter sich hat.

Ballhaus Rixdorf
Nachdem das Ballhaus Rixdorf seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Kino und anschließend als türkischer Tanzclub gedient hat, nutzte Drafi Deutscher die Räumlichkeiten und betrieb dort einen Beat Club. Ende der 1960er-Jahre produzierten Bands vor Ort ihre Platten, darunter auch Ton Steine Scherben, die hier ihre erste Studioaufnahme abschlossen und die beiden Songs „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ und „Wir streiken“ produzierte.
Die Band erfasste und verstärkte mit ihrer Musik das vorherrschende rebellische Lebensgefühl der Kreuzberger Jugend und Rio sang die wütenden Texte mit einer ähnlichen Wucht, mit der auf Demonstrationen Steine geworfen wurden. Anne Reiche, spätere Aktivistin in der Bewegung 2. Juni, bestätigt, dass diese Songs ein „unterschwelliges Gefühl verstärkt“ hätten: „Wir sind viele und können es schaffen, die Gesellschaft zu verändern.“
Video: Ton Steine Scherben: „Macht kaputt was euch kaputt macht“
Neben der Nürnberger Band „Ihre Kinder“ und noch vor Udo Lindenberg waren Ton Steine Scherben eine der ersten Rockbands, die ausschließlich deutsche Texte sangen. Blixa Bargeld, Frontmann der Einstürzende Neubauten, beschreibt die Scherben, wie sie bald von ihrer Fangemeinde genannt wurde, als „die einzige Band, der es gelang, die Idee von Rockmusik eins zu eins ins Deutsche zu übertragen.“
Als ebenso revolutionär und wegweisend erwies sich das Vorhaben der Band, ihre Songs unabhängig von der Plattenindustrie unter einem eigenen Label, das sie in Anlehnung an Rios einstigen Künstlernamen „David Volksmund“ nannten, zu veröffentlichen. Das hatte es noch nie zuvor in Deutschland gegeben und somit war die Idee der „Independent Musik“, bevor dieser Begriff zu einem schwammigen Genrebegriff verkam, geboren. Das Geld, das für die Pressung der Platten sowie die Herstellung der Cover und fällige GEMA-Gebühren benötigt wurde, streckte Rios Bruder Gert vor, was sich nicht als Verlustgeschäft herausstellte, denn es gelang den Scherben ihre erste Single „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ innerhalb von einigen Monaten mehr als 6000 Mal verkaufen.
Video: Ton Steine Scherben 1970 – 1. TV-Auftritt
Ihren ersten Liveauftritt sollte die Band beim von Beate Uhse gesponserten Love-and-Peace-Festival am 6. September 1970 auf der Insel Fehmarn absolvieren, wo sie ursprünglich als Theatergruppe engagiert waren, was dem Veranstalter eine Steuerersparnis einbrachte, da ein Kulturgut wie Theater vom Staat eigens gefördert wurde. Gert hatte die Auftrittsmöglichkeit beschafft, obwohl ihm gewiss bewusst war, dass Theater vor etwa 25.000 Zuschauern nicht funktionieren konnte. Die Scherben hatten daher andere Pläne geschmiedet. Standen sie erst einmal auf der Bühne, werde man sie nur schwerlich daran hindern können, Musik zu machen, statt Theater zu spielen.
Neben Jimi Hendrix, der kurz darauf verstarb, und somit auf Fehmarn sein letztes Konzert gespielt hat, waren zahlreich weitere internationale Rockgrößen angekündigt.

Jimi Hendrix beim Fehmarn Festival 1970 / (Detlef Hansen / CC BY-SA 4.0)
Doch das enthusiastisch angekündigte Festival verlief chaotisch. Das Wetter war schlecht, der Sound eine Katastrophe, die Gesamtorganisation amateurhaft, sodass angekündigte Bands wie Emerson, Lake and Palmer oder The Faces mit ihrem Leadsänger Rod Stewart nicht mehr auftreten wollten. Entsprechend explosiv war die Stimmung im Publikum, als unmittelbar bevor die Bühne für die Scherben bereitstand, bekannt wurde, dass sich die Veranstalter mit dem eingenommenen Geld aus dem Staub gemacht hatten.
Der Gedanke Theater zu spielen, war längst verworfen und das Festival drohte ohnehin im Chaos zu versinken, als Rio, Lanrue, Kai und Wolfgang beschlossen, drei Songs zu spielen, um dann umgehend von der Insel zu verschwinden. Rio begrüße die Menge erstmals mit den Worten: „Hallo, wir sind Ton Steine Scherben“. Die zumindest außerhalb Berlins noch gänzlich unbekannte Band kam gut an und als Rio das Publikum aufforderte, den Veranstalter „ungespitzt in den Boden zu hauen“, leistete dieses zu den Klängen von „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ Folge. Von der Bühne konnte die Band erkennen, wie in der Ferne das Büro des Veranstalters in Flammen aufging. Die Band spielte noch einen dritten Song, räumte daraufhin eilig die Bühne, schaffte ihre Instrumente in den geliehenen VW-Bus und verließ unverzüglich das Festivalgelände.
Video: Beitrag Bayerischer Rundfunk über das Fehmarn Festival 1970
Aus dem davonfahrenden Bandbus sah Rio noch, dass mittlerweile auch die Bühne in Flammen stand. Das Ende des großspurig angekündigten Festivals der Liebe war zugleich die öffentliche Geburtsstunde von Ton Steine Scherben. Sie hatten die Bühne bei ihrem ersten Auftritt mit Jimi Hendrix, der an gleicher Stelle seinen letzten Auftritt absolviert hat, geteilt und unmittelbar nach ihrem Abgang ging diese in Flammen auf. Verheißungsvoller kann die Karriere einer Rockband kaum beginnen.