Unterwegs in… Nordfriesland
Rio Reiser – Teil 4: Wohin gehen wir?
„Wohin gehen wir? Wohin gehen wir?
Werden wir uns wiedersehen hier?“
(aus Rio Reiser: „Wohin gehen wir?“)
Es kommt nicht oft vor, dass eine US-Band von Weltniveau einen deutschsprachigen Song performt. Metallica hat sich bei einem Konzert in Mannheim augenzwinkernd an den Rio Reiser Klassiker „König von Deutschland“ versucht und 60.000 Metallfans sangen textsicher und lautstark mit.
VIDEO: Metallica, “König von Deutschland“, Mannheim 2019
1985 hatten sich Ton Steine Scherben angesichts von nahezu 300.000 DM Schulden aufgelöst. Die Band konnte und wollte sich als „Ikone der Linken“ nicht an die Musikindustrie verkaufen. Doch schon ein Jahr später wurde Rio Reiser zum „König von Deutschland“ gekrönt. Was war in solch kurzer Zeit geschehen? Rio erinnert sich, dass er eines Nachts angesichts der ausweglos erscheinenden Situation beschlossen habe, „auf den Strich zu gehen“, womit er die Kommerzialisierung seiner Musik meinte. „Ich – Rio Reiser – war bereit, mich einer Plattenfirma hinzugeben. Natürlich nur gegen ein angemessenes Entgelt.“
Die Musikerin und Produzentin Annette Humpe hatte den Kontakt zu George Glueck hergestellt, der Rios Manager wurde und seinen Schützling fortan rein äußerlich bei Fototerminen ein wenig modischer erscheinen ließ, ohne dessen Identität und Naturell zu verleugnen. Vor allem aber erhielt Rio, nachdem er vergeblich Herbert Grönemeyer, der durchaus bemüht war, Rio zu helfen, um Unterstützung gebeten hatte, einen Plattenvertrag bei CBS.
Wie sie ein Jahr zuvor versprochen hatte, produzierte Annette Humpe Rios erstes Soloalbum „Rio I.“, dessen Songs vorrangig auf zahlreichen Ideen basieren, an denen die Scherben für eine mögliche weitere LP, zu der es nicht mehr gekommen ist, gearbeitet hatten. Das Album war gefällig und zeitgemäß produziert, auch wenn für manchen Fan sicherlich die Rauheit der vergangenen Tage fehlte. Vor allem enthielt die Platte mit „Alles Lüge“, „Für immer und Dich“, „Junimond“ und „König von Deutschland“ sehr gute Songs und Rios größte Hits. Insbesondere „Junimond“ und „König von Deutschland“ waren derart erfolgreich, dass er nach kurzer Zeit die bestehenden Schulden begleichen konnte.
Rio Reiser – Für immer und dich (Peters Pop-Show 06.12.1986):
Mancher Song des Albums ist zeitlos, wie die zahlreichen Coverversionen, die bis zum heutigen Tage erscheinen, belegen, doch insbesondere „König von Deutschland“ kann mittlerweile als modernes Volkslied bezeichnet werden, das auch Jahrzehnte nach seiner Veröffentlichung auf jeder Dorfparty oder auch beim Metallica-Konzert textsicher mitgesungen wird. Der Song entsprach nicht unbedingt dem Geschmack der Scherbenfans, doch verkannten diese, dass die ironische Kommentierung der bundesdeutschen Politik und Kultur bereits 1976, damals noch mit einem anderen Text, im Liveprogramm der Scherben auftauchte und Rio den Song als die humorige Version von „Keine Macht für Niemand“ betrachtet hat.
Rio Reiser – König von Deutschland (Peters Pop-Show 06.12.1986)
Es ist weniger eindeutig, wo das Hoheitsgebiet des Königs enden würde, als man denken mag, wie ich nahe meines derzeitigen Aufenthaltsortes Fresenhagen in Augenschein nehmen kann, denn in Rosenkranz, das laut Emil Nolde „schönste Dorf in unserem Friesenland“, nimmt die Grenze zum benachbarten Dänemark einen kuriosen Verlauf. 1920 kam es zu einer Volksabstimmung, in der die Nordschleswiger entscheiden konnten, ob sie sich Dänemark oder Deutschland zugehörig fühlen. Die Festlegung des neuen Grenzverlaufs war von dem Bestreben geprägt, möglichst vielen Einwohner ihre Wünsche zu erfüllen, zudem wurde ausgiebig über den Zugang zum Ruttebüller See gestritten, da die deutschen Fischer bei ungünstigem Grenzverlauf um ihre Existenz fürchteten. Das Resultat ist eine Grenze, die im Zickzack gezogen wurde, den See in zwei Hälften teilt und wie die im Asphalt eingelassenen Grenzsteine belegen, exakt in der Mitte der hier verlaufenden Rosenkranzer Straße verläuft, sodass sich Autofahrer auf einer Strecke von knapp 200 Metern zumeist zeitgleich in zwei Staaten aufhalten.
Grenzstein in der Rosenkranzer Straße
Dass ich mich in einem kulturell vielfältigen Landstrich aufhalte, erfahre ich überdies bei meinem Besuch in der Gemeinde Risum-Lindholm, wo ich auf den Straßenschilden fremdartige Namen wie „Üülendik“, „Räidekööl“, „Bloogewäi“, „Üüle Browäi“ oder „Kornkuugswäi“ lese und als ich eine kleine Bäckerei betrete, freundlich mit „Goemoarn“ begrüßt werde. Als ich mich als Tourist zu erkennen gebe, erklärt mir die Verkäuferin, dass ich mich hier im Zentrum der Festlandnordfriesen befände, wo die nordfriesische Sprache gepflegt und noch in den Familien sowie in der Öffentlichkeit gesprochen werde. Genau genommen seien hier mit Deutsch, Dänisch, Friesisch, Niederdeutsch und Südjütländisch sogar fünf Sprachen gebräuchlich, weshalb Risum-Lindholm bereits mit der Auszeichnung „Sprachenfreundliche Gemeinde“ bedacht worden sei. Die Kinder würden Friesisch bereits im Kindergarten lernen und in den ortsansässigen Schulen sei es ab der 3. Klasse obligatorisches Unterrichtsfach. Ausgestattet mit frischen, duftenden Brötchen verabschiede ich mich herzlich mit dem soeben gelernten „Adjis“.
Im Zuge des Erfolges seiner ersten Solo-LP hatte sich Rios Leben grundlegend gewandelt. Er gab Interviews, trat reihenweise in Talkshows auf und war Gast in Musikshows, wobei er sich eines Tages die Garderoben mit Thomas Anders und Dieter Bohlen teilte, was Rio verständlicherweise köstlich amüsiert hat. Sein damaliger Lebensgefährte Misha Schoeneberg hat Rio in dieser Phase als recht glücklich erlebt. Dabei spielte weniger das Geld eine Rolle, mit dem Rio alsbald in der Lage war, den Hof in Fresenhagen zu erhalten, sondern es war vielmehr die Anerkennung, die er als Künstler endlich erhielt, die ihm spürbar guttat.
Als ungerecht und verletzend empfand er jedoch die erhobenen Vorwürfe vieler Ton Steine Scherben-Fans, die es nicht billigen konnten und wollten, dass ihr einstiges Idol und Vorbild für einen alternativen Lebensentwurf sich in einen kommerziell erfolgreichen Musiker verwandelt hatte. Rio fragte rhetorisch, welche Alternativen er angesichts des immensen Schuldenbergs gehabt hätte.
Auch wenn sein Soloalbum weitestgehend von professionellen Studiomusikern eingespielt wurde und nicht im Kollektiv entstanden ist, wie Rio es bislang gewohnt war, brach er nicht gänzlich mit seiner Vergangenheit und wurde bei Auftritten häufig von Musikern aus dem Scherben-Umfeld begleitet. Vor allem sein langjähriger Freund und Mitbewohner Lanrue blieb vorerst festes Mitglied in Rios Live-Band und bestritt mit ihm 1986 eine erfolgreiche Tournee.
Rio & Lanrue
Im selben Jahr versammelte sich die erste Garde der deutschen Musikszene, zu der nun auch Rio zählte, in der bayerischen Stadt Burglengenfeld, um gegen die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf zu protestieren. Die Organisatoren wie auch die Polizei und Ordnungsbehörden waren auf die gewaltige Besucherzahl nicht vorbereitet, sodass der Verkehr in der Umgebung nahezu zum Erliegen kam. Rio reiste mit dem Taxi an, wurde jedoch von einer von Staus und Polizeikontrollen entnervten Fahrerin 15 Kilometer vor dem Ziel aus dem Fahrzeug geworfen, woraufhin er die Strecke bis zum Festivalgelände zu Fuß bewältigte. Mit einer Allstar-Band (u.a. mit Herbert Grönemeyer, den Toten Hosen und Bap) beendete Rio vor über 100.000 Zuschauern das Konzert und spielte als letzten Song allein am Klavier eine berührende und hingebungsvolle Version von „Somewhere over the Rainbow“.
VIDEO: Rio Reiser – Somewhere Over The Rainbow – Anti-WAAhnsinns-Festival Wackersdorf 1986
Das von Rio besungene Traumland über dem Regenbogen ist wohl nur an wenigen Orten ferner gewesen als im Herbst 1944 in Ladelund, einer Gemeinde hoch im Norden nahe der dänischen Grenze, als ein schier endloser Zug von Männern jeglichen Alters, die sich kraftlos und schweigend voranschleppten, den Ort durchquerte. Adolf Hitler hatte den Bau von Panzerabwehrgräben entlang der Nordseeküste angeordnet, den die Häftlinge in der Region Ladelund ausheben sollten, um einen befürchteten Einmarsch der alliierten Truppen von Norden aufzuhalten. Nur sechs Wochen dauerte der Spuk. Doch in dem Zeitraum starben dreihundert Menschen, die an der Dorfkirche ein würdevolles Grab gefunden haben.
Gräber an der Dorfkirche Ladelund
Zur Erinnerung an die Gräueltaten wurde als eine der ältesten ihrer Art in Deutschland die KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund eingerichtet. In Sichtweite der Gräber erblicke ich das Dokumentenhaus, in dem ich die Dauerausstellung zur Geschichte des Lagers, die mittels Schautafeln, Hör- und Filmstationen sowie Biografien einzelner Häftlinge veranschaulicht wird, besichtige.
Ich betrachte erschüttert eine mit den Worten „Kennzeichen für Schutzhäftlinge in den Konzentrationslagern“ überschriebene Blechtafel, der zu entnehmen ist, mit welchen Emblemen die Häftlinge nach Ländern, „Rasse“, Vorverurteilungen etc. kategorisiert wurden. Die entsprechenden farbigen Abzeichen wurden den Häftlingen mit ihrer Häftlingsnummer, die im Lager den Namen der gefangenen Person ersetzte, auf die Kleidung genäht, sodass das Wachpersonal den jeweiligen Grund der Inhaftierung rasch und mühelos erkennen konnte.
Schautafel: „Kennzeichen für Schutzhäftlinge in den Konzentrationslagern“; Lehrmaterial für SS-Wachmannschaften
Die rund 2000 Häftlinge kamen in Ladelund in eine Gemeinde, die laut Ladelunder Kirchenchronik die „ersehnte nationale Wende“ im Januar 1933 „freudig begrüßt“ hatte und bereits bei den Reichstagswahlen im November 1932 mit 84,6 % für die NSDAP gestimmt hatte.
Niemand im Dorf konnte die Schreie in der Nacht überhören und die Qualen der unterernährten Menschen übersehen, die täglich durch das Dorf zur Arbeit getrieben wurden und mehrmals in der Woche in Papiersäcke gehüllt, als Leichen auf Pferdekarren zurücktransportiert wurden.
Als Rio Reiser einst auf dem ehemaligen Führerstand des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes seine angeblich erste Zigarette rauchte, habe er geahnt, dass etwas verschwiegen wurde. Die Menschen, die das weite Gelände einst jubelnd gefüllt hatten, konnten kaum plötzlich verschwunden sein…
Reichsparteitag 1935 / Kurt Wittig – Privataufnahme
„Menschenfressermenschen sind normal und meist sehr fleißig
Menschenfressermenschen gibt’s nicht erst seit ’33 (…)
Menschenfressermenschen fressen Menschen selten selber
Menschenfressermenschen haben ihre tausend Helfer (…)
Menschenfressermenschen stehen neben dir am Tresen
Menschenfressermenschen sind es immer nicht gewesen“, dichtete Rio in dem auf seinem ersten Solo-Album enthaltenen Song „Menschenfresser“, der den Vorwurf, er sei nicht mehr politisch relevant, ad absurdum führt.
Rio Reiser – Menschenfresser (Official Video) :
Der Kommandant des KZ-Außenlagers Ladelund, SS-Untersturmführer Hans Hermann Griem, war solch ein „Menschfressermensch“. Wie überlebende Häftlinge schilderten, unterschlug er Lebensmittel, empfand sichtbares Vergnügen an sadistischen Quälereien und erschoss willkürlich mehrere Häftlinge. Verurteilt wurde er für seine Taten nicht.
Lagerkommandant Hans Hermann Griem / KZ- Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund
Nach Kriegsende bemühte sich der in seiner Haltung widersprüchliche Pastor Johannes Meyer, der selbst langjähriges Mitglied der NSDAP war und es ablehnte, an der Verfolgung der Täter von Ladelund mitzuwirken, um eine würdige Gestaltung und Pflege der Gräber, die den Ursprung der heutigen KZ-Gedenkstätte bilden.
Auf dem Heimweg von Ladelund höre ich eine Reportage über die griechische Grenzsicherung im Autoradio, bei der neben fünf Meter hohen Stahlzäunen und Wärmebildkameras, um Migrantinnen und Migranten auch bei Nacht aufzuspüren, ab sofort auch sogenannte Schallkanonen eingesetzt werden. Diese erzeugen einen extremen, durchdringenden und schier unerträglichen Lärm, ähnlich dem eines startenden Düsenjets. Die Technik gelte als hochwirksam, sei aber aufgrund der Schmerzen, die sie auslöse, sowie möglicher Dauerschäden, die bis zur Taubheit führen könnten, umstritten und während ich die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen sagen höre „Ich möchte Griechenland dafür danken, dass es unser europäischer Schutzschild ist“, erscheint mir die menschliche Abartigkeit grenzenlos.
Zwischenzeitlich kommt mir wiederholt die ockerfarbene Blechtafel, die ich in der Gedenkstätte betrachtet habe, in den Sinn. Aus irgendeinem Grunde hat mich die dargestellte Kategorisierung von Menschen und somit deren Entmenschlichung besonders erschüttert und abgestoßen. Wenn ich mir den alten Scherben-Klassiker „Mein Name ist Mensch“ in Erinnerung rufe, mutmaße ich, dass Rio ähnlich empfunden hätte.
„Ich habe viele Väter, ich habe viele Mütter
Und ich habe viele Schwestern und ich habe viele Brüder
Meine Väter sind schwarz und meine Mütter sind gelb
Meine Brüder sind rot und meine Schwestern sind hell
Ich bin über zehntausend Jahre alt und mein Name ist Mensch“
Rio hat seit Beginn seines Künstlerdaseins in seinen Liedern wie zuvor in den Theaterstücken angestrebt, jene zu erreichen, die im Unfrieden leben, die kaum zu wissen scheinen, wozu und warum sie überhaupt auf dieser Welt ihr Dasein fristen. Diese Zweifel waren Rio allzu vertraut, weshalb er sehr launisch, stur und verletzend sein konnte. Er haderte mit der Welt bis zur Selbstzerstörung und zelebrierte diese Gefühlszustände geradezu, indem er sich zurückzog, in seinem Zimmer verschloss und ihn manch ein Besucher in Fresenhagen tagelang nicht zu Gesicht bekam. Rios anfängliche Zufriedenheit bezüglich seines Karrierewegs hielt nur kurz an. Das offenbarte sich auch in seinem Alkoholkonsum, „der ihn zersetzte“ (Misha Schoeneberg). Wegbegleiter erinnert sich, dass Rio bereits sein Frühstück mit dem ersten Underberg des Tages begleitete.
Das zweite Soloalbum „Blinder Passagier“ konnte die hohen Erwartungen, die das Debüt geweckt hatte, nicht erfüllen. Die Ursachen für die enttäuschenden Verkaufszahlen mögen darin liegen, dass Rio sich wenig bemühte, einen Nachfolge-Hit für „König von Deutschland“ zu produzieren und es stattdessen vorzog, sich von Seemanns-, Sehnsuchts- und Schlafliedern inspirieren zu lassen. Aus heutiger Sicht enthält das Album einige schöne, melodische Songs, die im typisch glatten 1980er-Sound produziert wurden. Um das Album zu promoten, absolvierte Rio mit einer geradezu lächerlich wirkenden Playbackband, der auch der bemitleidenswerte Lanrue angehörte, einige zweifelhafte Fernsehauftritte.
Rio Reiser – Blinder Passagier (05.09.1987):
Die Tournee zum Album war dennoch ein voller Erfolg und führte Rio auf Einladung der FDJ im Oktober 1988 für zwei Konzerte nach Ost-Berlin, wo er frenetisch gefeiert wurde. Einer der beiden Auftritte, für die Rio noch einige Scherben-Klassiker mehr als üblich ins Programm nahm, wurde aufgezeichnet und vom DDR-Jugendradiosender DT 64 gesendet. Allerdings fehlte bei der Ausstrahlung der Scherben-Song „Der Traum ist aus“. „Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist? Ich weiß es wirklich nicht – Ich weiß nur eins, und da bin ich sicher…“, singt Rio, worauf das Publikum die nächste Zeile „Dieses Land ist es nicht!“ lauthals mitsingt und ein Jahr vor der politischen Wende enthüllte, wie wenig sich die anwesenden Zuhörer mit ihrem Staat identifizieren wollten und konnten.
Lanrue stieg nach den Konzerten aus der Band aus. Er fühlte sich musikalisch unterfordert und spürte, dass er sich mit der künstlerischen Richtung, die Rio einschlug, nicht identifizieren konnte. Er zog sich auf den Hof nach Fresenhagen zurück, wobei seine Freundschaft zu Rio unter der Entscheidung in keiner Weise litt.
Nachdem ich einige Tage auf dem Anwesen verbracht habe, beginne ich zu ahnen, warum es die Scherben hierhergezogen hat. Ich stelle fest, dass ich an diesem verwunschenen Ort weder den vergangenen Tag Revue passieren lasse noch den nächsten plane, sondern im Augenblick bin wie nur selten in meinem Leben. Ich sitze abends mit einem kühlen Glas Weißwein auf meiner Terrasse, blicke ins Grüne und lausche dem ständig anwesenden Kuckuck, der mich am nächsten Morgen zuverlässig wecken wird.
Es ist für mich nur schwer vorstellbar, dass Rio einen Song wie „Übers Meer“ in Berlin-Kreuzberg hätte schreiben können.
VIDEO: Rio Reiser – “Übers Meer”:
In meiner Vorstellung hat er vielmehr umgeben von friedlich grasenden Schafen auf dem Deich am Beltringharder Koog gesessen, als ihm die sehnsuchtsvollen Zeilen dieses Shantys in den Sinn kamen. Ich blicke auf die schwungvolle Linkskurve der Gleise, die geradewegs zur schemenhaft erkennbaren Hallig Nordstrandischmoor führen. Hier verkehren auf der 3 km langen Strecke die per Muskelkraft angetriebenen Loren, die bei Niedrigwasser für die Halligbewohner die einzige Verbindung zum Festland darstellen.
Beltingharder Koog
In Interviews wirkte Rio zunehmend desillusioniert. Wie in seinem Song „Alles Lüge“, mit dem er oftmals seine Konzerte eröffnete, bekundete er mittlerweile an nichts mehr zu glauben, es sei denn, er erlebe es unmittelbar. Im Vergleich zu dem jugendlichen Rio Anfang der 1970er Jahre hat sich spürbar etwas verändert. Angesichts des Zustands der Welt konstatiert er: „Was soll man machen… kotzen oder lachen…?“ Der Glaube an hehre Ziele scheint nach und nach vom Misstrauen und Zweifel verdrängt worden zu sein. Hat Rio einst mit ermutigenden Zeilen wie „Wir werden es schaffen“, „Reißen wir die Mauern ein“ oder „Wir durchbrechen die Schranken“ von der Verwirklichung von Träumen gesungen, wurden seine Texte im Laufe der Jahre weniger zuversichtlich. „Die Mauern schreien: Nix mehr zu Hoffen!“, singt er in dem Song „Schicht“.
Ihn kränkten zudem die sich wiederholenden Vorwürfe zum „Schlagerfuzzi“, der sich für Geld verkaufe, verkommen zu sein. Es ginge ihm doch offenkundig nicht darum, irgendwo in einer schicken Villa zu leben oder teure Autos zu fahren. In der Tat hatte Rio keinerlei Verlangen nach Statussymbolen. Sein Geld gab er in erster Linie für Reisen aus… sowie für Alkohol und andere Drogen.
Mit seinem dritten Album ging Rio 1989 musikalisch erneut völlig neue Wege. Nicht nur verzichtete er weitgehend auf rockige Töne, es kamen bei den Aufnahmen kaum Musiker zum Einsatz, da Rio stattdessen elektronische Klänge und gesampelte Streicher in den Vordergrund stellte. Während sich viele seiner Fans erneut schwertaten Zugang zu dem Album zu finden, meldete sich Rios Vater telefonisch und lobte seinen Sohn für den Song „4 Wände“. Es war das einzige Mal, dass er sich zu Rios Musik geäußert hat. Das titelgebende „Sternchen“ war wiederum das Lieblingslied seiner Mutter und auch Rio hielt es für seinen besten Song.
VIDEO: Rio Reiser—Sternchen:
Zum Entsetzen seines Managers, der dies für unternehmerischen Selbstmord hielt, wurde Rio 1990 Mitglied der PDS. Seine Plattenfirma sah die persönliche Entscheidung etwas entspannter und erhoffte sich durch Rios Engagement zumindest im Osten Deutschlands sogar steigende Plattenverkäufe. Doch als die PDS „König von Deutschland“ als Wahlkampfsong verwendete, führte dies dazu, dass der Song im Radio nicht mehr gespielt und der Videoclip vom Musiksender VIVA boykottiert wurde. Als Motiv für sein Handeln führte Rio in Interviews an, er habe sich „immer für Außenseiter eingesetzt“ und als solche würden die Ostdeutschen, indem versucht werde „die ganze Identität zu eliminieren“, behandelt.
Rio saß nach Konzerten gerne mit Menschen, einerlei ob VeranstalterIn, Roadie oder KartenabreißerIn, zusammen. Er war frei von Starallüren und zeigte echtes Interesse an seinem Gegenüber. Insbesondere während Tourneen, die ihn in die damals noch neuen Bundesländer führten, war es ihm wichtig, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Er betrachtete die Fans dort nicht als potenzielle neue Käufer, sondern war neugierig, wollte deren Leben verstehen und wissen, was sie bewegt.
Nach dem Experimentieren mit elektronischen Klängen kehrte Rio mit seinem 1991 erschienenen Album „Durch die Wand“ zu ungeschliffenen, handgemachten, rockigen Tönen zurück. Auch wenn die Kritiken überwiegend positiv ausfielen – in der Tat sind Rio einige sehr gute Songs gelungen – hielt sich das Publikumsinteresse in Grenzen. Seine Fans schien das Album erneut ein wenig ratlos zurückzulassen und auch seine Plattenfirma fragte sich zunehmend, welche Käuferschicht an Rios CDs überhaupt noch Interesse haben könnte. Kein Song auf der Platte besaß Hitpotenzial und Rio hatte offenbar auch kein Interesse, einen solchen zu produzieren. Darüber hinaus musste die geplante Tournee aufgrund eines nicht genauer erläuterten verschlechternden Gesundheitszustandes Rios vollständig abgesagt werden.
Rio Reiser – Zu Hause (Bilder aus Rios Haus in Fresenhagen):
Bei seinem Auftritt in Corny Littmanns Mitternachtsshow war Rio alkoholisiert und befand sich in spür- und sichtbar schlechter Verfassung. Littmann machte sich Sorgen um seinen Freund und stellte ihm Niels Braasch vor, in den sich Rio, wie Littmann geahnt und gehofft hatte, Hals über Kopf verliebte. Als Rio kurz darauf zu Gast in einer Talkshow sein sollte, brannte er am Tag der Aufzeichnung kurzentschlossen mit seinem neuen Freund durch. Trotz des Skandals zeigte sich Corny Littmann bestätigt, denn endlich habe Rio mal `Nein` gesagt und sei einfach abgehauen. „Das hätte er Jahre zuvor schon machen sollen.“
Rio Reiser – Halt Dich an Deiner Liebe fest, Mitternachtsshow, 1991:
Noch im selben Jahr verschlechterte sich Rios Gesundheitszustand, sodass Lanrue seinen langjährigen Freund in die Berliner Schlosspark-Klinik einlieferte. Es kamen Gerüchte auf. So wurde etwa über eine Aidserkrankung spekuliert. Vermutlich litt Rio unter Gelbsucht – ein eindeutiges Symptom seines über Jahre überbordenden Alkoholkonsums.
Nach dieser erzwungenen Auszeit blieb Rio politisch engagiert, zumal ausländerfeindliche Übergriffe, brennende Asylunterkünfte, blindwütige Nazis, die von Beifall klatschenden Zuschauern angespornt wurden, die Schlagzeilen dominierten. In einer TV-Sendung diskutierte Rio mit den Musikern der Rechtsrock-Band Störkraft und schaffte es, da er ihnen nicht aggressiv oder hasserfüllt gegenübertrat, einen Zugang zu ihnen zu bekommen, sodass es, als die Kameras abgeschaltet waren, zu einem versöhnlichen Austausch zwischen den ungleichen Musikern kam und die Band künftig in ihren Texten liberaler wurde. Bei einem Konzert gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Frankfurt am Main hatte er für diesen Anlass gemeinsam mit Ulla Meinecke den Song „Zeitreise“ geschrieben und live präsentiert.
Ulla Meinecke & Rio Reiser – Zeitreise
Als er in der Schmidt-Mitternachtsshow im NDR mit der Komikerin Marlene Jaschke seinen Song „4 Wände“ sang, wurden Rios Augen feucht. Ob der Anruf seines Vaters und dessen lobende Worte für das Lied der Grund für die aufkommenden Emotionen war, bleibt ungewiss. Das Verhältnis der beiden war vergleichsweise nüchtern, zumal sie nicht dazu neigten, ihre Gefühle nach außen zu tragen, und engeren Kontakt zum anderen scheint keiner von beiden gesucht zu haben. Doch trotz des gänzlich anderen Lebensstils hat Rios Vater früher oder später erkannt, dass sein Sohn seiner Arbeit ebenso sorgfältig und gewissenhaft nachging, wie er selbst es einst getan hat.
Rio Reiser & Marlene Jaschke – 4 Wände – 1993:
Rio fühlte sich mit Fortdauer seiner Solokarriere zerrieben zwischen seinen künstlerischen Vorstellungen und den kommerziellen Erwartungen – sowohl den von außen herangetragenen als auch seiner eigenen, denn er schielte bisweilen neidisch auf Kollegen wie Herbert Grönemeyer, Wolfgang Niedecken oder Udo Lindenberg. Unzufrieden mit dem Verlauf seine Karriere entschloss er sich erneut Anette Humpe zu engagieren, die ein gutes Gespür dafür besaß, einen zeitgemäßen Sound zu kreieren, ohne dabei künstlerische Ansprüche über Bord zu werfen. Somit produzierte sie das 1993 erschienene Album „Über Alles“, das mit einer Mixtur aus Beat, Polka, Rock, Shantys, Bob Dylan-Anklängen und House-Soundelementen überrascht. „Mit dieser Mischung bin ich in den Sixties aufgewachsen: mit bayrischem Bilder- und Notenbüchlein und Musik aus dem AFN (US-Rundfunk; Anm. d. Verf.)“, erklärt Rio, der sich gerne als Volksmusiker im besten Sinne – nicht zu verwechseln mit volkstümlicher Musiker – gesehen hat.
Die Bediensteten des Staatsschutzes, die in den 1970er-Jahren die Wohngemeinschaft der Scherben häufig besucht haben, um untergetauchte Terroristen aufzuspüren, hätten sich 1993 verdutzt die Augen gerieben angesichts der illustren Schar, die sich im Sommer in Fresenhagen zusammengefunden hatte. Anne Reiche, eine langjährige Freundin von Rio und einstiges Mitglied der militanten Bewegung 2. Juni, die sich während ihrer zehnjährigen Haft der RAF angeschlossen hatte und mittlerweile seit 10 Jahren auf freiem Fuß war, hatte ein Treffen von einstigen RAF-Veteranen organisiert. Die in den vergangenen Jahren begnadigten und aus dem Gefängnis entlassenen Terroristen trafen sich in Fresenhagen und feierten in genau jenen Räumlichkeiten im Nordtrakt des Anwesens, in denen ich derzeit wohne, ihr Wiedersehen. Als Lanrue die Festgesellschaft betrachtete, habe er gedacht: „Hier sind fünfhundert Jahre Knast versammelt.“ Eine Besucherin kam sogleich auf ihn zu, stellte ihn zur Rede und beklagte sich, dass die Band einst Wahlkampf für die SPD gemacht hatte. Lanrue war genervt, ob der nie enden wollenden Vorwürfe, zumal er als Gastgeber es als unhöflich empfand, von seinen Gästen belehrt zu werden. Bei ihrer Abreise hinterließen die einstigen Revolutionäre einen versöhnlichen Dankesbrief: Wenn auf dem Hof in Fresenhagen praktische Hilfe vonnöten wäre, könnten sie „jederzeit eine Arbeitsbrigade zur Verfügung stellen“.
1994 erschien die in Zusammenarbeit mit seinem Freund Hannes Eyber entstandene Autobiografie „König von Deutschland“, die Rios Solokarriere weitestgehend ausspart. Dies jedoch weniger, weil Rio nicht zu dieser stand, sondern vorrangig aufgrund terminlicher Gründe bezüglich der Abgabe des Manuskripts, denn Rios Engagement beim Verfassen des Textes hielt sich in engen Grenzen, sodass er sich gezwungen sah, das Projekt früher oder später abrupt zum Abschluss zu bringen. Mit dem Resultat war er nicht sonderlich zufrieden und verspürte offensichtlich keine Lust, das Buch zu promoten, was beispielsweise der Late-Night-Talker Thomas Koschwitz, der während eines zermürbenden Gesprächs kaum eine gescheite Antwort von einem resigniert wirkenden Rio erhielt, zu spüren bekam. Als der tapfere Moderator zum dritten Mal fragte: „Was erwartet mich denn nun in dem Buch?“ erhielt er die gelangweilte Antwort: „Na Buchstaben!“ Es war beileibe nicht der einzige Interview- oder TV-Termin, der derart desaströs verlief. Wiederholt zeigte Rio seinem Gegenüber überdeutlich, dass er keinerlei Interesse hatte, mit ihm zu reden.
Wenn Rio neidisch auf manche seiner Kollegen blickte und sich fragte, warum er nicht die gleichen Chancen erhielt wie diese und die Schuld gerne seinen Managern und Plattenfirmen zuschob, muss auch konstatiert werden, dass Rio künstlerisch sicherlich nicht Vergleiche mit Niedecken, Grönemeyer und Lindenberg scheuen musste, doch im Vergleich zu ihnen, denen es scheinbar leicht fällt, die Erwartungen, egal ob in einer klamaukigen Unterhaltungsshow oder in einer inhaltsschweren Talkshow, zu bedienen, war Rio erkennbar untalentiert darin, sich zu verkaufen. Er schien für diese Art des Geschäfts einfach nicht gemacht zu sein.
Rios sechste und letzte Soloplatte erschien unter dem Titel „Himmel und Hölle“ und erweckt den Eindruck, dass er sich von kommerziellen Vorgaben weitestgehend freigemacht hatte. Er scharrte wieder Menschen um sich, mit denen er gemeinsam Musik machen wollte, denn auch wenn Rio mitunter ein divenhaftes Verhalten zeigte, vermisste er das Gemeinschaftsgefühl und das Arbeiten im Kollektiv, das zum Selbstverständnis der Scherben zählte. Entstanden ist ein nicht überproduziertes, schwermütig-düsteres, dystopisches Album, bei dem Rio wie gewohnt zahlreiche musikalische Inspirationen nutze und zu etwas vermischte, das seinen persönlichen musikalischen Stil erkennen ließ.
Auf dem CD-Cover ist Rio in Anlehnung an die Tarotkarte „Der Gehängte“ dargestellt und zeigt ihn an einem Fuß kopfüber aufgehängt über einem Abgrund. Die Deutung dieser Karte ist vielschichtig und was Rio bewogen haben mag, ausgerechnet dieses Motiv zu wählen, bleibt letztlich offen. „Der Gehängte“ gilt im Tarot als Symbol für erforderliche Geduld sowie die Fähigkeit, die Welt und das eigene Leben aus alternativen, neuen Blickwinkeln zu betrachten. Sie beschreibt einen momentanen Zustand der Orientierungslosigkeit, Verwirrung und Hilflosigkeit, beinhaltet aber zugleich die Perspektive, sich aus dieser festgefahrenen Situation befreien zu können. Dem gescheiterten Bemühen seinen Weg aus eigener Kraft zu finden, folgt eine Phase des Loslassens, der Ruhe und Besinnung. Möglicherweise übernimmt zukünftig eine noch unbekannte Kraft die Führung über das Leben, womit sich neue Möglichkeiten eröffnen können. Letztlich thematisiert die Tarotkarte die Vorbereitung auf etwas gänzlich Neues, was in letzter Konsequenz auch die Vorbereitung auf den eigenen Tod sein kann.
In Interviews räumte Rio ein, sich damit abgefunden zu haben, den Tag der ersehnten Weltrevolution nicht mehr zu erleben, aber er hoffe nach wie vor, dass der Tag, für den er noch immer kämpfe, kommen werde. Denjenigen, die ihn für einen Verräter hielten, bescheinigte er, zu viel in ihn hineinzuprojizieren. Er wolle und könne diese Erwartungen nicht erfüllen. In dem Song „Hoffnung“ singt Rio zehn Jahre nachdem er zum „König von Deutschland“ gekrönt wurde: „Nehmt mir die Krone ab, die mich erdrückt, nehmt mir die Krone weg, nehmt sie zurück. Ich weiß, irgendwo ist da ein Licht, doch ich kann euch nicht führen, denn ich weiß den Weg nicht.“
Das Album beginnt mit einer Adaption des Johannesevangeliums: „Da war ein Wort am Anfang der Welt; ein Wort, das die dunkelste Nacht erhellt. Das Wort war Liebe (war das Wort) und das ist der Schlüssel zum großen Tor.“ Rios religiöse Motive wurden im Verlauf seiner Karriere nachdrücklicher, auch wenn er zeitlebens institutionalisierte Religion ablehnte, insbesondere die katholische Kirche scharf kritisierte und bezweifelte, dass die kirchlichen Würdenträger die Bibel lesen würden, was er seit seiner Jugendzeit fast täglich tat und diese bei Reisen stets im Koffer mit sich führte. Die Erkenntnisse seines Bibelstudiums verarbeitete er in zahlreichen Texten. Die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies und die Frage, wie die Menschheit dorthin zurückgelangen könnte, kann gar als das Leitmotiv seines künstlerischen Schaffens angesehen werden.
Das Album endet mit dem Lied „Himmel und Erde“, das musikalisch und textlich von dem Volkslied „Es waren zwei Königskinder“ inspiriert ist und mit dem Vers endet:
„Himmel und Erde liebten sich so sehr
Doch sie kamen nicht zusammen
Und die Zeiten war’n schwer
Da waren zwei Menschen
Die trafen vier Menschen
Die trafen acht Menschen
Die trafen 16 Menschen
Trafen 32 Menschen
Und die hatten sich gerne
Und die bauten ne Leiter
Wollten bis zu den Sternen
Am Schluss waren’s viel mehr als 100.000 Leut
Und wenn wir nicht gestorben sind
Leben’se noch heut“
Die Himmelsleiter, auf die Rio anspielt, geht auf eine biblische Erzählung zurück. In einer Traumvision reichte sie mit ihrer Spitze bis in den Himmel und auf ihren Sprossen stiegen Engel auf und nieder.
Die Engelsleiter, Michael Lukas Leopold Willmann, um 1691 / gemeinfrei
Ein geflügeltes Geistwesen ist offenbar im Desmerciereskoog, einem Ortsteil der Gemeinde Reußenköge, auf die Erde hinabgestiegen. Ich stehe auf einer, unmittelbar an einer wenig befahrenen Landstraße gelegenen Wiese und betrachte eine gut 3 Meter hohe, aus weißem Tessiner Marmor gefertigte Engelsfigur. Dieser sogenannte Zweieinigkeitsengel soll mich laut seiner Erschafferin an die Einheit des göttlichen Lebens erinnern. Ich setzte mich an eine der nur ein paar Schritte entfernt aufgestellten rustikalen Tischgruppen, die zum Pausieren einladen und lasse die Figur auf mich wirken. Laut der Künstlerin Guna Scheffler, der ich diesen himmlischen Gesandten zu verdanken habe, sollen sich Besucher in der Nähe des Engels ausruhen, Kraft tanken, picknicken oder auch feiern. Auch sind sie dazu aufgefordert, den Engel zu berühren, zu umarmen oder sich in ihn hineinzusetzen, um Trost und Stärkung zu erhalten und sich mit dem Himmel zu verbinden.
Zweieinigkeitsengel im Desmerciereskoog
Guna Scheffler verfolgt den Plan, viele weitere Marmorengel von der Nord- bis zur Ostsee aufzustellen, wofür sie bereits zahlreiche geeignete Standorte gefunden und weitere Engelsfiguren gefertigt hat. Hier im etwa 360 ha großen Desmerciereskoog, der 1767 eingedeicht wurde, steht seit 2009 der erste Engel ihres schönen Projekts.
Im Gegensatz zu diesem friedlich-harmonischen Ort erscheint Rios sechstes und letztes Soloalbum düster. Auch in Interviews klang er oftmals frustriert und ernüchtert bezüglich der gesellschaftlichen Realitäten in Deutschland. Er beklagte die Art und Weise, wie die Wiedervereinigung vollzogen wurde, den besserwisserischen Umgang mit der Stasi, die arroganten Wertungen, denen sich ostdeutsche Bürger ausgesetzt sahen und empfand Deutschland als Land voller „Heuchelei und Verlogenheit“.
Wegbegleitern zufolge lebte Rio zu jener Zeit nach dem Motto „von allem zu viel“. Er habe zu viel gearbeitet, geraucht und getrunken und begab sich im Frühsommer 1996 trotz seines schlechten Gesundheitszustands und gegen den Rat seines Arztes auf Deutschland-Tour, um sein Album zu bewerben.
Rio Reiser gab sein letztes Konzert am 24. Mai 1996 im ausverkauften „Malzhaus“ in Plauen (Vogtland), wo er mit einer Gedenktafel gewürdigt wird.
In Erinnerung an das letzte Konzert von Rio Reiser
CC BY-SA 3.0 / Muehle64
VIDEO: Rio Reiser – „Alles Lüge“ – Live in Bad Salzungen, 17 Mai 1996:
Zwei Tage darauf war ein Konzert in der Freilichtbühne Berlin-Weißensee geplant, doch auf das Erscheinen von Rio wartete das Publikum vergeblich und blickte stattdessen auf eine verwaiste Bühne und minütlich angespannter wirkende Roadies. Rio, der im Tagesverlauf vor Ort war, ging es derart schlecht, dass er sich in sein Hotel fahren lassen hatte, wo er es zunächst strikt ablehnte, einen Arzt zu konsultieren. Als er jedoch begann Blut zu spucken, konnte er überzeugt werden, einen Mediziner herbeizurufen. Dieser versorgte Rio, konnte ihm mithilfe von Infusionen rasch helfen und riet seinem Patienten dringend, sich genauer untersuchen zu lassen, was Rio jedoch kategorisch ablehnte. In den kommenden Tagen schien es ihm deutlich besser zu gehen. Dennoch wurden die weiteren Konzerte der Tournee abgesagt und Rio reiste zur Erholung nach Ligurien, wo sein Bruder ein Ferienhaus besaß.
Möglicherweise hat er sich in der norditalienischen Sonne Gedanken über seine bisherige und zukünftige Karriere gemacht, denn in der Folge trennte er sich von seinem Manager, deutete gegenüber Kai Sichtermann, dem einstigen Bassisten von Ton Steine Scherben an, sich eine Wiederbelebung der Band vorstellen zu können und als Rio nach Fresenhagen zurückkehrte, teilte er Lanrue mit, dass er seine nächste Platte erneut bei der hauseigenen David Volksmund Produktion herausbringen wolle, um wieder unabhängig von einer Plattenfirma zu sein.
Kai Sichtermann, 2021
Ich sitze mit der Jagdhündin Diva zu meinen Füßen in einem gemütlichen Strandkorb auf der Terrasse in Fresenhagen. Die freundliche und stets gut gelaunte Hündin des hiesigen Verwalters kommt mich gelegentlich in meiner Ferienwohnung besuchen.
Diva
Diva ist auf dem Hof eine Nachfolgerin von Rios Tibet-Terrier-Hündin Alfa, die im Sommer 1996 neben Rio, dessen damaligen Freund Jan, Lanrue und seiner Freundin Tanja Ferkau auf dem Fresenhagener Hof lebte. Lanrue hatte am Vorabend hinter dem Haus gegrillt, doch Rio fühlte sich nicht wohl und zog es vor, den Abend im Bett zu verbringen.
Der 20. August war drückend heiß und schwül, weshalb Rio aufgrund seines angeschlagenen Gesundheitszustands im Haus verweilen wollte. Am Nachmittag bat er Jan mit Alfa spazieren zu gehen. Als dieser zurückkehrte, fand er Rio leblos auf dem Bett liegend. Lanrues Freundin Tanja versuchte vergeblich, ihn durch eine Mund-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben, sodass der herbeigerufene Arzt nur noch den Tod des 46 Jahre alten Künstlers feststellen konnte. Sein enger Freund Lanrue, mit dem Rio seit Jugendtagen innig verbunden war, stand regungslos im Türrahmen. Eine Obduktion wurde nicht für nötig gehalten, weshalb die Todesursache letztlich offenbleibt. Doch nach übereinstimmenden Aussagen waren es offenbar von Speiseröhrenkrampfadern, die in der Regel durch Alkoholismus hervorgerufen werden, verursachte innere Blutungen, die Rio das Leben gekostet haben.
In den kommenden Tagen kam die Idee auf, Rio unter einem Apfelbaum vor seinem Fenster in Fresenhagen zu bestatten, was von den örtlichen Behörden jedoch aufgrund der in Deutschland geltenden Friedhofspflicht abgelehnt wurde. Rios Brüder gaben nicht auf und baten weiterhin um eine Sondergenehmigung, die jedoch bis zum Tag der Beerdigung nicht erteilt wurde. Deshalb warteten im nahe gelegenen Städtchen Leck zwei Leichenwagen vor der Kirche. Das Fahrzeug des örtlichen Bestattungsunternehmens wurde beauftragt, den Sarg im Anschluss an den Trauergottesdienst zum Friedhof zu befördern, während der privat organisierte Wagen den Leichnam Richtung Fresenhagen fahren sollte, um Rio dort zügig zu bestatten und notfalls Tatsachen zu schaffen, die im Nachhinein, um die Totenruhe nicht zu stören, kaum wieder rückgängig gemacht werden konnten. Erst im letzten Augenblick erreichte die Brüder das erlösende Fax aus Kiel, in dem die damalige schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis persönlich die Erlaubnis erteilte, Rio auf seinem Grundstück zu bestatten.
Neben Rio wurde es in Deutschland nur wenigen Menschen gestattet, auf eigenem Grund und Boden begraben zu werden. Zu ihnen zählt auch der einstige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß. Ein größerer Gegensatz als zwischen diesen beiden Persönlichkeiten ist schwerlich denkbar und vermutlich hätte die posthume Gemeinsamkeit Rio sehr amüsiert.
Ebenfalls belustigt hätte Rio die außergewöhnliche Kondolenzkarte, die das Bundeskriminalamt, jene Behörde, auf deren Liste Rio viele Jahre stand und die ihn regelmäßig mit ihren Hundertschaften aus dem Schlaf gerissen hat, gesendet hat. Dessen Mitarbeiter verabschiedeten sich mit den augenzwinkernden Worten: „Treuer als mancher seiner Freunde… von denen, die ihn immer begleitet haben.“
Rios Grab in Fresenhagen
Eckhard Driessen / CC BY-SA 3.0
Weitere Persönlichkeiten, denen das Privileg eingeräumt wurde, sich auf dem eigenen Grundstück bestatten zu lassen, waren der Maler Emil Nolde und seine Frau Ada, vor deren Grab ich stehe. Ich schaue auf einen mit Gras bewachsen Erdhügel, der mich an eine J.R.R. Tolkiens Phantasie entsprungene Hobbitbehausung im Auenland erinnert und sich im Garten des Künstlers harmonisch in seine natürliche Umgebung einfügt.
Nolde-Mausoleum
Nach ein paar Schritten über einen asphaltierten Pfad gelange ich zu der geöffneten schweren Holztür, werfe einen Blick in das Mausoleum und betrachte die mit wenigen Pflanzen und weißen Kerzen geschmückte Grabstätte. Das von Nolde geschaffene Mosaik „Madonna mit Kind“ wurde zentriert am Kopfende über dem Sarkophag eingearbeitet. Den einstigen Erdschutzbunker hatte Nolde während des 2. Weltkriegs genutzt, um seine Gemälde vor möglichen Luftangriffen zu schützen und diesen, als 1946 seine Frau Ada starb, zu einer Gruft umgewandelt.
Grabstätte von Emil Nolde
Das Ehepaar Nolde hat das Grundstück sowie die umliegenden Felder und Weideflächen 1926 erworben und die weite Marschlandschaft Seebüll genannt. Diesen Namen trägt der bis heute kaum besiedelte Ortsteil nach wie vor. 1930 errichteten sie ein an den Bauhausstil erinnerndes Wohn- und Atelierhaus und legten einen großzügigen Bauerngarten an.
Ich spaziere an violettem Rittersporn, rosafarbenem Fingerhut, leuchtend rotem Mohn und zahllosen weiteren Blumen, zwischen denen Insekten emsig summen und brummen, sowie einem reetgedeckten Gartenhaus vorbei. Inmitten der dicht bepflanzten Beete befinden sich Wege, die in Form der Initialen E und A (für Emil und Ada) verlaufen. Die Gestaltung des bis heute nahezu unveränderten Gartens hat Emil Nolde persönlich übernommen und dabei das Ziel verfolgt, eine Anlage zu erschaffen, in der es möglichst zu jeder Jahreszeit blüht. Er mochte die reinen Farben der von ihm ausgewählten Pflanzen und nutze diese als Inspiration für seine farbintensiven Aquarelle.
Nolde-Garten
Während der bereits beschriebenen Arbeit an dem schwarzen Album haben sich die Scherben auch hier in diesem malerischen Garten versammelt, wo Schlagzeuger Funky aus dem Tarotkartenstapel den Magier zog und Rio damit zu dem auf ein Bibelzitat beruhenden Text „Wie in den Tagen Midians“ inspiriert hat.
Funky Götzner, 2021
Rios Grab in Fresenhagen entwickelte sich nach seinem Tod zu einer Pilgerstätte, das Gebäude wurde in „Rio-Reiser-Haus“ umbenannt und von seinem Bruder Gert ein „Rio Reiser-Museum“ eingerichtet. Lanrue verließ den Hof und verkaufte seine Hälfte des Gutes an Gert, da er nicht auf einem Friedhof oder in einem Museum, in dem er sich tagtäglich als lebensgroße Pappfigur selbst gegenüberstehe, leben wolle. Eine Zeitlang diente das Anwesen als Tagungsort, Anlaufpunkt für Fans, Studio für Musiker sowie als Konzertlocation. Doch als die jährlichen Kosten die Einnahmen stetig überstiegen und zaghafte Rettungsversuche der nordfriesischen SPD, Der Linken und Grünen an der herrschenden CDU-Regierung scheiterten, wurde der Hof 2011 veräußert.
Rios einstiges nun eingeebnetes Grab
Nach dem Verkauf wurde Rios Leichnam auf den Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin, jener Gemeinde, in der er Jahrzehnte zuvor getauft wurde, umgebettet und das ursprüngliche Grab in Nordfriesland eingeebnet.
Rios heutiges Grab
Auf dem historischen Friedhof in Berlin-Schöneberg liegt eine Steinplatte mit dem Symbol für die christlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung auf Rios Grab, das stets dekoriert ist mit Ehrerweisungen in Form von Gitarrenplektren, CDs, Fotos, Briefen, Zeichnungen, Kerzen, Windlichtern, Grußbotschaften sowie einer selbst gebastelten Krone für den „König von Deutschland“.
Gert Möbius räumte das große Haus aus, packte Gitarren, Rios Klavier, Mischpulte und weitere Erinnerungsstücke seines Bruders zusammen und ließ sie nach Berlin transportieren. Manches landete im Müll, wobei offenbar auch einiges auf dem Dachboden liegen blieb, denn ich bekomme 10 Jahre später, etwa 25 Jahre nach Rios Tod und 35 Jahre nach dem letzten Auftritt der Band während meines Aufenthalts in Fresenhagen von dem derzeitigen Verwalter ein altes Scherbenplakat geschenkt, das er auf dem Speicher gefunden hatte.
Tourplakat
Gert konstatierte, sein Bruder Rio sei an den Scherben beinahe physisch und an der folgenden Solokarriere psychisch zerbrochen. In der Tat entsteht im Rückblick der Eindruck, dass Rio trotz gelegentlich divenhafter Verhaltensweisen und unausgesprochener Wünsche das Leben eines gefeierten Rockstars zu führen, der hierzu erforderliche Hang fehlte, sich in den Vordergrund zu drängen. Er schätzte das Kollektiv, die Zusammenarbeit sowie das Zusammenleben auf Augenhöhe und nahm sich selbst nicht allzu wichtig … letztlich so wenig, dass er sich und seinen Körper gänzlich vernachlässigte.
Blickt man auf Rios Leben zurück, scheint er sich in kaum einer Phase vollkommen zugehörig gefühlt zu haben. Angefangen bei seiner von zahlreichen Umzügen geprägten Kindheit, die es ihm unmöglich machten, sich heimisch zu fühlen und langfristige Freundschaften zu schließen, konnte er sich auch mit der Studentenbewegung in Berlin, deren Ziele er teilte, doch deren akademische Sprache ihm fernblieb, kaum identifizieren. Auch im weiteren Verlauf seiner Karriere als Musiker und Texter schien er stets zwischen den Stühlen zu stehen und mühte sich weitestgehend erfolgreich jeglicher Vereinnahmung, ob politischer, religiöser, kommerzieller oder künstlerischer Natur, zu widerstehen und stellte resigniert fest: „Den einen sind wir zu radikal, den anderen nicht radikal genug.“ Während seiner Solokarriere fiel es ihm schwer, die eigenen Ideale und Lebensvorstellungen mit finanziellen Notwendigkeiten und den von außen an ihn herangetragenen Ansprüchen der Musikindustrie zu vereinen und als er sich parteipolitisch engagierte, spürte er rasch, dass er weder bei der SPD, noch bei den Grünen oder der PDS als ernst genommener Gesprächspartner gefragt war, sondern als Politbarde benutzt wurde.
Nach Rios Tod fanden zahlreiche deutschsprachige MusikerInnen wie Marianne Rosenberg („Ich war in Rio Reiser verliebt.“), Blixa Bargeld („Ich habe noch nie jemanden in Deutschland singen gehört und gesehen, der wie Rio in der Lage war, innerhalb von Sekunden eine intime Beziehung, geradezu eine Liebesbeziehung, mit jedem einzelnen seiner Zuhörer aufzubauen.“) oder Wolfgang Niedecken, der Rio für den besten deutschen Texter hielt, anerkennende Worte. Auch Udo Lindenberg („Rio war ein Flammenwerfer, ein Anzünder für uns alle.“) zog seinen breitkrempigen Hut und selbst der dünkelhafte Heinz Rudolf Kunze, der einst propagiert hatte „Rio Reiser gehört nach jeglicher Revolution an den nächsten Laternenpfahl geknüpft“, vergoss Krokodilstränen und bemerkte, dass Rio „sehr viel mehr Spuren hinterlässt als manche, die Millionen Platten verkaufen“. Die treffendsten Worte fand wohl Herbert Grönemeyer: „Er ist der einzige deutsche Sänger, den ich je bewundert habe – seinen leidenschaftlichen Hang zum Aufruhr, zum Diventum, zum Kitsch und zum anarchischen Patriotismus.“
Als ich nach knapp zwei Wochen Aufenthalt den Hof in Fresenhagen verlasse, kommt tatsächlich etwas Wehmut auf. Bin ich hier seinerzeit mit einigen Zweifeln ob der einsamen Lage und des geringen kulturellen Angebots angereist, ist mir der Ort unverzüglich ans Herz gewachsen. Als ich die lange von hohen Ulmen gesäumte Einfahrt hinunterfahre und ein letztes Mal im Rückspiegel auf das große reetgedeckte Gebäude blicke, bin ich mir sicher, dass ich eines Tages zurückkehren werde.
Während Fresenhagen hinter mir entschwindet, höre ich Rios markante Stimme aus meinen Autolautsprechern erklingen: „Ich will nicht getreten werden und ich will nicht treten und ich will auch nicht das goldene Kalb anbeten… Ich will Ich sein.“ Die Zeilen fassen womöglich Rios Selbstverständnis, um das er zeit seines Lebens gerungen hat, prägnant zusammen … ein Ringen, das ihn letztlich zerrieben hat.