Unterwegs… in Nordfriesland

Rio Reiser – Teil 3: Land in Sicht

„Land in Sicht, singt der Wind in mein Herz
Die lange Reise ist vorbei
Morgenlicht weckt meine Seele auf
Ich lebe wieder und bin frei“
(aus Ton Steine Scherben: „Land in Sicht“)
„Letzte Ausfahrt vor der Bundesgrenze“ lese ich nach sechsstündiger Autofahrt nahe der Grenze zu Dänemark auf dem Schild an der A7. Es folgt eine etwa 25 km lange Strecke durch Kuh- und Schafweiden sowie kleinere Siedlungen, bis mir ein unscheinbarer Hinweis an der linken Straßenseite den Weg zur Ortschaft Fresenhagen weist, deren Name „Hof bei den Friesen“ bedeutet und auf das im 16. Jahrhundert durch Landaufkäufe der Adelsfamilie Wisch entstandene Gut Fresenhagen zurückgeht.

Zufahrt zum einstigen „Rio Reiser-Haus“
Wobei mir „Ortschaft“ ein unzutreffender Begriff zu sein scheint, denn Fresenhagen besteht lediglich aus einer schmalen Straße, an der eine knappe Handvoll vereinzelter Gebäude liegen und die mich durch Felder und Wälder führt, bis ich ein leuchtend weißes, von dichten Sträuchern, Obstbäumen, hohen Ulmen und saftigen Wiesen umgebenes, reetgedecktes Anwesen erblicke: das einstige „Rio Reiser-Haus“ und langjähriger Wohnort der Band Ton Steine Scherben, die das Gebäude über den identischen Weg am späteren Abend des 1. Juni 1975 mit ihrem klapprigen, vollgestopften Hanomag erreichte.

Einfahrt zum Anwesen
Der Entschluss von Berlin nach Nordfriesland zu ziehen, bedeutete für die sechzehn umtriebigen Großstädter (zu Ton Steine Scherben zählten traditionell nicht nur die Musiker, die auf der Bühne standen, sondern jeder, der sich der Gruppe anschloss, deren Ideen und Ziele teilte, mit ihnen zusammenlebte und sich auf irgendeine Weise einbrachte), die im Sommer 1975 hier ankamen, einen bemerkenswerten und kühnen Schritt und auch für mich, der gewöhnlich Städte wie New York, London oder Berlin bereist, stellt es zunächst eine Herausforderung dar, an einem derart abgelegenen Ort, ohne WLAN und mit den weißen Spitzen sich drehender Windräder, die gelegentlich über den hohen Baumkronen auftauchen, als einziger Spur von Zivilisation, einige Tage zu verweilen.
Rio erinnerte sich, dass die Gruppe, die sich in der nordfriesischen Einsamkeit einen anarchischen Traum zu erfüllen versuchte, schlagartig ein Leben ohne Telefon und Zeitungen führte und bekräftigte den Entschluss: „Wir wollten raus aus Berlin. Wir wollten einen Bauernhof. Egal wo. Geld spielte keine Rolle. Wir hatten keins…“
50.000 DM mussten die Scherben für das leerstehende Objekt auftreiben, wovon Nikel Pallat, der seinen Bausparvertrag über 30.000 DM auflöste und somit offizieller Eigentümer des Anwesens wurde, den Löwenanteil beitrug. Das restliche Geld liehen sich die übrigen Mitglieder von Freunden und Familienangehörigen.

Vorbei an einem winzigen beseelt schauenden, auf einer Schnecke reitenden Gartenzwerg, der sich als ein treffendes Bild für Entschleunigung und meinen kommenden Aufenthalt erweisen sollte, biege ich in die von Ulmen gesäumte Auffahrt und bin sogleich begeistert und ein wenig gerührt. Vor dem Haus, wo sich jetzt eine weite Rasenfläche befindet, auf der sich muntere Amseln tummeln, haben die Scherben einst einen Gemüsegarten angelegt und hinter dem Haus wuchsen Obstbäume, die bis heute für Schatten und Früchte sorgen.


Einfahrt zum Anwesen in den 70ern und heute
Sogleich nach ihrer Ankunft in Fresenhagen begannen die Scherben im Garten zu arbeiten und voller Enthusiasmus Gemüse anzubauen, sahen sich jedoch vorrangig gezwungen, das heruntergekommene Gebäude zu sanieren. Das Reetdach war angefault und löchrig, die Mauern von Schimmel befallen, einige Wände marode und manches Fenster wurde provisorisch durch Plastikfolie ersetzt. Eine funktionierende Heizung gab es lediglich in der Küche. Doch trotz mangelnder handwerklicher Erfahrung stürzten sie sich in die Arbeit und es gelang ihnen nach und nach das Gebäude zumindest notdürftig instand zu setzten.


Die Scherben bei der Arbeit
Rio bezog einen Raum unmittelbar neben der Küche, in der sich die Gruppe in den kalten Wintermonaten aufwärmte. Hinter seiner Zimmertür, an der ein Bild von Daisy Duck klebte, verströmte der Duft von glimmenden Räucherstäbchen. In den Ecken standen eine Weihnachtspyramide sowie ein kleines thailändisches Geisterhaus und drei Gitarren lehnten an der Wand. Die gefüllten Bücherregale beherbergten seine geliebten Karl-May-Bände, von denen er sich wiederholt inspirieren ließ, dicke historische Chroniken, statistische Jahrbücher, Romane und die Bibel.

Das einstige „Rio Reiser-Haus“ 2021
An einem meiner ersten Tage in Nordfriesland ist es mir gelungen, mich in den dortigen Moorgebieten zu verlieren. Nachdem ich mehrfach im stetigen Wechsel einige hundert Meter mit dem Auto gefahren war, um aus diesem auszusteigen und die umliegende Gegend zu Fuß zu erkunden, überkam mich das triumphale Gefühl, Orte aufgespürt zu haben, zu denen zuvor noch kein Mensch vorgedrungen war. Ich konnte keine Andeutung von Zivilisation mehr entdecken und hörte in Gedanken bereits wie mein Name ehrfurchtsvoll in einem Atemzug mit Roald Amundsen und Edmund Hillary geraunt wird. Doch Bergsteiger und Abenteurer Reinhold Messner äußerte einmal sinngemäß: „Das Geheimnis meines Erfolges ist es, dass ich IMMER an den Rückweg denke!“ Ich musste mir eingestehen, dass mich diese Tugend offenbar noch von den ganz großen Abenteurern trennt, denn ich sah schlagartig keine Möglichkeit, das Moor mit meinem Auto unbeschadet wieder zu verlassen. Letztlich habe ich nach einem längeren Fußmarsch einen Traktor am Horizont erblickt, habe diesen erreicht und von dem Bauern, nach kurzer Schilderung meiner Lage, unkomplizierte Hilfsbereitschaft erfahren. Er bat mich auf seinen Beifahrersitz, steuerte sein Gefährt zielsicher durch die morastigen Wiesen und konnte mich erfolgreich evakuierten.

Verloren im Moor
Beeindruckt hat mich bei dem Geschehen die nüchterne Reaktion des Bauern, der weder vorwurfsvoll fragte, wie ich mich in solch eine Situation hatte bringen können, noch mir durch vielsagende Blicke zu verstehen gab, mich als einen naiven, ahnungslosen Touristen erkannt zu haben. Er erfasste die Situation, erkannte, dass er das bestehende Problem lösen konnte und handelte, ohne dass dafür viele Worte vonnöten waren.
Ähnliches haben auch die Scherben erlebt, die trotz ihres andersartigen Aussehens, Lebensstils und Arbeitsfeldes von der hiesigen Landbevölkerung sogleich akzeptiert wurden. Sie halfen den Bauern bei der Ernte, wurden dafür in Naturalien entlohnt und erfuhren die Unterstützung der benachbarten Landwirte bei den notwendigen Arbeiten auf dem Hof. Stets war jemand zur Stelle, wenn eine helfende Hand, ein Traktor oder Know-how, wie beispielsweise beim Decken des maroden Reetdachs, benötigt wurde. Die Scherben lernten schnell die friesische Toleranz kennen und schätzen. Jörg Schlotterer erinnert sich, dass er von dem nachbarschaftlichen Zusammenleben beeindruckt war. „Es gibt in ganz Deutschland kaum so tolerante Leute wie die Nordfriesen. Unsere Nachbarn, die Bewohner des Dorfes Fresenhagen, haben uns offen aufgenommen und haben nicht auf unser Äußeres geschaut.“

Gitarrist Lanrue, der sich in Fresenhagen ein Pferd anschaffte, stellt in der Rückschau fest, dass sich sein Verhältnis zur Natur nach dem Umzug von Berlin positiv verändert und er diese als etwas Bedeutendes erkannt habe. Ich konnte während meiner Fahrten in diverse Naturschutzgebiete, wo mit Regelmäßigkeit Rehe und andere Wildtiere meinen Weg kreuzten, betrachten, dass auf meiner seit Jahren sauberen Windschutzscheibe wieder Insekten ihren tragischen Tod finden und durfte allmorgendlich bei den ersten Sonnenstrahlen zwei übermütige Hasen beobachten, die aus den Gebüschen der angrenzenden Wiese gehoppelt kamen, um sich auf der Hofeinfahrt ausgelassen zu vergnügen. Der Gedanke daran, dass vor 45 Jahren im Morgengrauen hinter jenen Büschen zwei Hundertschaften schwerbewaffneter Polizisten aufsprangen, die, da der abgelegene Bauernhof ein idealer Unterschlupf zu sein schien, das Haus umzingelt hatten und die herrschende Ruhe störten, um nach versteckten RAF-Mitgliedern oder dem entführten Hans-Martin Schleyer zu suchen, lässt mich schmunzeln. „Die Jungs und Mädels wurden mit der MP geweckt. Gefunden ham se nix. Nur ’n büschen Hasch“, erinnert sich ein Dorfbewohner.
Die finanziellen Probleme der Scherben blieben bei aller Aufbruchstimmung belastend für die Gruppe. Für die anfänglich sechzehn Bewohner standen nach durchgeführtem Kassensturz pro Tag bescheidene 15 DM zur Verfügung, was einen Lebensstil erforderte, der nur mit viel Fantasie und Einschränkungen realisierbar war. Diese Herausforderung sowie die in verschiedener Hinsicht eigenwillige Wohnsituation führten zu Spannungen und letztlich dazu, dass noch innerhalb der ersten Monate acht Personen auszogen und überwiegend nach Berlin zurückkehrten.
Mit geringen finanziellen Mitteln aber ausreichend Improvisationstalent und Einfallsreichtum richtete sich die Band ein Studio in einem Nebengebäude, einem einstigen Pferdestall, der mittlerweile zu einer Garage mit Abstellräumen umfunktioniert worden ist, ein. Dort erhielt die dritte LP von Ton Steine Scherben, die vornehmlich noch in Berlin entstanden ist, ihren letzten Feinschliff und wurde 1975 als Doppelalbum mit dem Titel „Wenn die Nacht am tiefsten …“ veröffentlicht. Sie zeigte eine Abwendung von den rauen politischen Schlagworten der vergangenen Jahre zu intimeren, melancholischen Themen und erhielt möglicherweise deshalb wenig Aufmerksamkeit, was Rio sehr enttäuschte, schien doch niemand zu registrieren, dass die Songs mit ihren ausgefeilteren Arrangements, die verschiedene Stilrichtungen aufgriffen, einen musikalischen Fortschritt offenbarten.

Damals ein Tonstudio – heute eine Garage
Video zum Song „Land in Sicht” mit in Fresenhagen entstandenen Filmaufnahmen:
Doch weiterer Verdruss sollte schon bald folgen, als die Scherben 1976 von der SPD gebeten wurden, deren bevorstehenden Bundestagswahlkampf musikalisch zu unterstützen und ihnen dafür 60.000 DM geboten wurden. Trotz dieser für die Band exorbitant hohen Summe, die manche ihrer Schwierigkeiten aufgelöst hätte, lehnten sie die Offerte ab, um sich nicht vor den Karren einer Partei spannen zu lassen. Da ihnen die SPD jedoch politisch zumindest näherstand als die drohende CDU-Regierung, einigte man sich auf einen Kompromiss. Für 10.000 DM schrieb Rio einige Songs für den nahenden Wahlkampf, wollte aber nicht, dass diese unter dem Namen Ton Steine Scherben präsentiert wurden, weshalb kurzerhand die Band Captain Hammer, bestehend aus einstigen Bandmitgliedern und ohne Beteiligung von Rio und Lanrue, ins Leben gerufen wurde. Gleichwohl und auch trotz der Tatsache, dass Rio gewiss keine SPD-Hymnen gedichtet hatte – so lautet etwa eine Zeile in dem Song „Ich will ich sein“ „und wenn ich wähle, will ich mich selber wählen“ – war die Kritik aus den Reihen der radikalen Linken scharf. Bei einem Konzert in der Essener Grugahalle entrollte der spätere Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit in Anspielung auf einen alten Scherbensong („Alles was uns fehlt ist die Solidarität“) ein Plakat mit der Aufschrift „Alles was uns fehlt ist das Geld“. Rio blickte auf diese Auseinandersetzungen nicht ohne Resignation zurück: „Manchmal denke ich… hätten wir mal die 60.000 DM genommen… Jetzt haben wir den ganzen Ärger und nicht mal Geld.“
Zu der wiederkehrenden Kritik, die Scherben würden ihre politischen Ambitionen begraben und ihre Ziele aus den Augen verlieren, erläuterte Rio, dem zeit seines Lebens bekehrende Besserwisserei, auch wenn sie aus ihm politisch nahestehenden Richtungen kam, zuwider war: „Was ist denn das Ziel? Mein Ziel ist Himmel, Sonne, Sterne, lächeln, träumen, Bäume, Tiere, Früchte, säen, ernten, tanzen, schlafen, bauen, leben ohne Angst. Leben, lieben.“
Die Band war von den ständigen Auseinandersetzungen ermüdet und nahm sich eine langjährige Auszeit von der Bühne, ohne das Zusammenleben als Kommune aufzugeben.
Es ist ein verwunschener Ort, an dem sie diese Gemeinschaft gelebt haben. Nach einigen Tagen Aufenthalt wächst das mir fremde Gefühl, mich selten so sehr im Jetzt gefühlt zu haben wie in Fresenhagen. Ich rufe mir vergangene Reisen in Weltmetropolen in Erinnerung, in denen ich allabendlich bemüht war, die unterschiedlichsten Eindrücke und Erlebnisse zu verarbeiten, aber auch stets den planerischen Blick auf den kommenden Tag gerichtet habe, meine Termine beäugt, Öffnungszeiten und U-Bahnverbindungen recherchiert und meinen Koffer nach zuvor organisierten Tickets durchstöbert habe. All dies fällt hier weg und das ist durchaus befreiend. Rios Freund und Biograf Hannes Eyber beschrieb seine Erfahrung: „Fresenhagen hat sein eigenes Zeitmaß. Du kamst in Niebüll mit dem Zug an und konntest deine Uhr wegschmeißen – alle Zeitstrukturen, an die du gewöhnt warst, galten nicht mehr. Fresenhagen war eine andere Welt.“ Diese Beschreibung trifft auch heute noch zu und der glückliche Zwerg an der Einfahrt ist hierfür das angemessene Sinnbild.

Wenngleich seine Schauspielkunst begrenzt war, wurde Rio Reiser 1977 für seine erste Filmrolle in dem Film „Johnny West“, für die ursprünglich Herbert Grönemeyer vorgesehen war, der diese jedoch aufgrund amouröser Verwicklungen mit der Hauptdarstellerin und Lebensgefährtin des Regisseurs verlor, der Bundesfilmpreis in Gold verliehen. Den Ausdruck „verliehen“ nahm Rio wörtlich und versetzte, um die Scherben weiterhin am Leben zu halten, die Siegesstatue gegen 10.000 DM. Erst für die Filmproduktion hatte sich Rio, wie er seit ewigen Zeiten genannt wurde, den Künstlernamen „Reiser“ zugelegt. Ihm sei sein Name bei Ton Steine Scherben noch völlig unwichtig gewesen, doch nun wolle er auf keinen Fall mehr Möbius heißen, „weil Möbius für mich nicht knallte, und wenn, dann in eine andere Richtung. Der erinnerte mich an Arztfilme aus den 40er, 50er Jahren… und dann weiß man ja auch, dass bei erfolgreichen Namen die Initialen häufig gleiche Buchstaben sind wie Greta Garbo, Marilyn Monroe, Claudia Cardinale, Brigit Bardot usw.“
1977 entwickelte sich in vielfältiger Hinsicht zu einem Jahr der Veränderungen. Der Vietnamkrieg, ein zentraler Gesichtspunkt der Studentenbewegung der 1960er Jahre, war vorüber und die sich steigernde Zahl der Opfer des Terrorismus dokumentierten die Sackgasse des von der RAF eingeschlagenen Weges.
Nikel Pallat und Jörg Schlotterer verließen Fresenhagen, weil sie dort für sich keine Perspektive sahen, sodass fortan nur noch Rio, Lanrue mit seiner damaligen Freundin Britta Neander und Funky Götzner auf dem friesischen Bauernhof lebten. Der Grundgedanke, auch Nichtmusiker als festen Bestandteil der Gruppe zu sehen, schien gescheitert. Rio und Lanrue übernahmen als Eigentümer den Hof und die bestehenden Schulden wurden solidarisch aufgeteilt, wobei jeder gewillt war, seinen Beitrag zu leisten. So verzichteten Bandmitglieder auf Tantiemen und versuchten sich stattdessen künftig mit anderen Jobs durchzuschlagen. Der Auszug der einstigen Bewohner wurde gelegentlich als „die Ratten verlassen das sinkende Schiff“ dargestellt, was nicht der Wahrheit entspräche, wie Bassist Kai Sichtermann vehement betont. Die vielen Mäuler seien schlicht nicht mehr zu stopfen gewesen und es wurde nach gangbaren Lösungen gesucht.

Kai Sichtermann, 2021
Zu jener Zeit lernte Rio Corny Littmann, den späteren Vereinspräsident des FC St. Pauli und Besitzer des Schmidt Theater sowie des Schmidts Tivoli und seine Theatergruppe „brühwarm“ kennen. Littmann war offen schwul, was Rio faszinierte. Die Theatergruppe präsentierte das Schwulsein provokant, aber mit Witz und Charme, was für Rio eine Befreiung bedeutete und dazu führte, dass er fortan entspannter mit seiner sexuellen Orientierung umging. Gemeinsam produzierten die Scherben mit Brühwarm „mannstoll“, die als „die erste schwule Platte Deutschlands“ gilt.
Aus dem Theaterstück „mannstoll“ (1977) / „Ich freu mich schon auf Dienstag“:
Nach den Querelen der vergangenen Jahre um politische Ansprüche und stetiger Einmischungen in ihre künstlerische Ausrichtung schwand die Lust der Beteiligten, weiterhin als Ton Steine Scherben aufzutreten. Stattdessen entstanden neben den musikalischen Beiträgen für Stücke der Theatergruppe „brühwarm“ zahlreiche Auftragsarbeiten für weitere Theaterstücke, Hörspiele und sogar Kinderplatten.
Doch es erschien zunehmend fraglicher, ob diese Herangehensweise künstlerisch und vor allem finanziell zu einem befriedigenden Ziel führen würde oder um es mit den drastischeren Worten Nikel Pallats zu formulieren: „Die Scherben waren ziemlich am Arsch“. Rio wurde im Umgang beständig schwieriger. Zwar konnte er äußerst humorvoll und hilfsbereit bis zur Selbstaufgabe sein, aber sich auch schlagartig zum Despoten wandeln. Oftmals ließ er sein Umfeld den angestauten Groll deutlich spüren, vermied es jedoch, die Beteiligten über die Gründe seines Zorns in Kenntnis zu setzen. Stattdessen zog er sich still leidend in sein Zimmer zurück, um dort zu schreiben oder zu lesen. Einzig Lanrue war es, nachdem eine gewisse Zeit verstrichen war, in derartigen Situationen möglich, Zugang zu Rio zu erlangen. Dieser Verhaltenszug wirkte auf sein Umfeld mitunter geradezu inszeniert. Rio schien gerne zu leiden, um aus diesen Emotionen kreative Energie zu schöpfen. Dahinter steckte womöglich auch seine Eigenart, niemals „nein“ zu sagen, mit der Folge, dass er sich zu einem späteren Zeitpunkt vehement beklagte, abermals von jemandem ausgenutzt worden zu sein. Zudem fiel es ihm äußerst schwer Kritik anzunehmen, was für die Scherben als Gruppe allgemein galt. Auf Kritik reagierte die Band dünnhäutig.
Ende der 1970er Jahre gelangten zahlreiche deutschsprachige Songs – etwa von Dschingis Khan, Peter Maffay, Dunja Rajter oder den Gebrüder Blattschuß – in die Hitparaden. Doch die Scherben blieben außen vor und waren mittlerweile seit Jahren weitestgehend aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden.
Das sollte sich ändern, als Irene Moessinger, eine alte Bekannte, die einst im besetzten und von den Scherben besungenen Rauch-Haus lebte, 800.000 DM geerbt hatte und sich damit einen Lebenstraum verwirklichen wollte. Ihre Idee war es, eine moderne Form des Zirkus, in dem auch gesellschaftliche Themen und Kunst ihren Platz finden, zu schaffen. Hierzu wurde ein Zelt als dauerhafte Veranstaltungsstätte am Potsdamer Platz errichtet und zur Eröffnung des sogenannten „Tempodrom“, das nach wechselhafter Geschichte gegenwärtig in einem architektonisch an ein Zelt erinnernden Betonbau am ehemaligen Anhalter Bahnhof beheimatet ist, wünschte sich Moessinger Ton Steine Scherben im Programm. Diese sagten zu und traten nach 5 Jahren erstmals wieder live auf.
Am 1.5.1980 fand die Eröffnung statt, bei der neben Artisten und Größen aus der Kabarettszene Eric Burdon, Ingrid Caven und die Scherben auf der Bühne standen. Auch wenn deren Auftritt nach der langen Pause sicherlich nicht zu den musikalischen Höhepunkten ihrer Karriere zu zählen ist, wurde die Band in ihrer alten Heimat gefeiert und bejubelt. Die Berliner Szene schien froh zu sein, die legendären Musiker aus Kreuzberg wieder „zu Hause“ begrüßen zu können.
Doch ihr Wohnort hieß mittlerweile Fresenhagen, wo sich die Band etwa sechs Wochen später im Wald versammelte, um eine Tarotkarte zu ziehen. Rio erhielt mit „Das Gericht“ eine Karte, die Auferstehung, Neubeginn und Wandel symbolisiert. Diese Anregung sollte sich später in dem Song „Morgenlicht“ wiederfinden. „Wir stehen im Morgenlicht. Fiebrige Knospen im ersten Sonnenstrahl. (…) Die Nacht versinkt hinter uns. Die Tür ist aufgerissen.“

Der Fresenhagener Wald in den frühen Morgenstunden
Der Song ist auf der Doppel-LP „IV“, die aufgrund des schwarzen Albumcovers unter Fans üblicherweise als „Die Schwarze“ bezeichnet wird, zu finden. Auf ihrem Comeback-Album präsentieren die Scherben eine unkonventionelle Ansammlung unterschiedlichster musikalischer Einflüsse wie Folk, Punk, Rock oder Jazz sowie bildreiche, mit Metaphern gespickte Texte, deren politische Bezüge sich weniger direkt entspinnen.
Als die Scherben sich entschlossen hatten, ein neues Album zu produzieren, sah Rio die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung. „Wir haben einfach den Tisch freigeräumt und gesagt, wir vergessen jetzt mal alles, auch, was eine Gitarre ist. Alles, was einen Ton von sich geben kann, kann ein potenzielles Instrument sein“, erinnerte sich Rio. „Wir kamen dann auf die Idee mit den Tarotkarten.“ Über die genaue Entstehungsgeschichte der „Schwarzen“ vereinbarten die Musiker Stillschweigen. Erst 20 Jahre später wurde nach Absprache mit allen damals Beteiligten das Geheimnis gelüftet. Jeder der 22 Songs nimmt Bezug auf jeweils eine Tarotkarte, wobei die Karten an 22 unterschiedlichen Orten gezogen wurden und zudem festlegten, wer den betreffenden Song komponieren und den Text schreiben würde, was zur Folge hatte, dass nicht ausschließlich Rio und Lanrue für den kreativen Prozess verantwortlich waren. Bassist Kai, der nun auch erstmals als Komponist in Erscheinung trat, ist die Begeisterung deutlich anzumerken, wenn er an diese Phase zurückdenkt, die er als eine „magische und ungeheuer intensive Zeit“ und als ausgesprochen kreativ und produktiv erlebt habe. Zudem wurde nach astrologischen Gesichtspunkten bestimmt, wann der günstigste Zeitpunkt sei, mit der Arbeit an dem Album zu beginnen. Am 22.1.1980 um 7:58 Uhr ließ Funky eine Flasche Sekt als Startschuss an der Studiotür zerschellen.

Kai Sichtermann im Fresenhagener Studio
Von Fresenhagen erreiche ich nach lediglich fünfminütiger Autofahrt den mit etwa 1000 Hektar größten Wald Nordfrieslands, den von zahlreichen Wanderwegen durchzogenen Langenberger Forst. Ich folge eine Weile den seit der Bronzezeit bestehenden und von Vivorg (Dänemark) bis Wedel in Schleswig-Holstein führenden „Ochsenweg“ und trete somit in die Fußstapfen von Rittern, Pilgern, Soldaten und vor allem Ochsen, deren Hufe vom 16. bis in das 19. Jahrhundert hinein millionenfach diesen Weg geebnet haben. Bis zu 50.000 Tiere wurden im Frühjahr auf diesem Pfad Richtung Husum, wo der große Viehmarkt stattfand, getrieben.

Der Ochsenweg
Auch an diesem Ort zogen die Scherben eine Tarotkarte. Lanrue erhielt mit dem „Turm“ eine Karte, die die Brüchigkeit von Glaubenssätzen, Weltbildern und Denkweisen, in denen wir Menschen gefangen sind, symbolisiert. Rio schrieb auf dieser Grundlage mit „Der Turm stürzt ein“ einen der bekanntesten Songs des Albums.
Ein nahegelegener, bislang nicht eingestürzter Turm bietet eine wunderbare und in Nordfriesland nahezu einzigartige Fernsicht. Handelt es sich bei dem Sandersberg mit seinen 53 Metern zwar um die höchste natürliche Erhebung der Region, erreiche ich, nachdem ich die gut hundert Stufen genommen habe, auf der öffentlich zugänglichen Plattform des Fernmeldeturms in der Gemeinde Bordelum mit einer Höhe von 68 Metern den höchsten Punkt Nordfrieslands. Ich blicke auf saftig grüne Wiesen, auf denen Kühe am Fuße des Turmes gemütlich grasen, auf sich drehende Windräder in der Ferne sowie auf entlegene Halligen, die am Horizont schemenhaft Gestalt annehmen. Die Nordfriesen waren um das Jahr 800 die ersten, die die Inseln kontinuierlich bewohnten, bevor sie um das Jahr 1100 begannen, auch die Küstenstreifen zu besiedeln.

Blick vom Fernmeldeturm in Bordelum
Der Kreis Nordfriesland ist der nördlichste Landkreis Deutschlands und die namensstiftende Heimat der als nationale Minderheit anerkannten Nordfriesen, deren Freiheitsliebe Rio so sehr schätzte, dass diese bei dem Entschluss, in den hohen Norden zu ziehen, eine Rolle spielte. In der Tat lehnten sich die Friesen bereits gegen die Ausbeutung der Römer auf und es gelang den Besatzern nur mit größter Mühe und beträchtlichen Verlusten deren mutigen Aufstand niederzuschlagen.
Aus den erkannten Notwendigkeiten des Deichbaus sowie der gebotenen Verteidigung gegen fremde Mächte aus dem Norden Europas organisierten sich die Friesen im Mittelalter, schlossen sich in eigenständigen Gemeinden zusammen und verteidigten ihre erlangte Selbstbestimmung aktiv gegen auswärtige Fürsten. Die politischen Strukturen nahmen in Friesland eine grundlegend andere Entwicklung als im restlichen Mitteleuropa. So konnte sich weder ein flächendeckendes Herrschaftssystem etablieren, noch wurden die Prinzipien von Ritterschaft und Adel akzeptiert, sodass sich, während fast überall in Europa die Feudalherren regierten, in Friesland keine adeligen Strukturen durchsetzen konnten. Es ist leicht vorstellbar, dass diese stolze Historie Rios Sympathien weckte.
Um das neue Album zu bewerben, entschieden sich die Scherben nach – abgesehen von dem Tempodrom-Auftritt – Jahren der Bühnenabstinenz, ausgedehnt auf Tour zu gehen. Diesmal sollte alles etwas professioneller sein als in der draufgängerischen Vergangenheit. Die Licht- und Tonanlage sollte den Ansprüchen des damaligen Publikums genügen, Übernachtungen nicht mehr auf verschlissenen Matratzenlagern in WGs erfolgen und um einen volleren Sound zu erzielen, wurde die Band mit dem Keyboarder Martin Paul sowie dem Gitarristen Marius del Mestre verstärkt. Die Resonanz des Publikums war positiv, die Konzerte überwiegend ausverkauft und es kam sogar zu einer TV-Aufzeichnung im renommierten Rockpalast. Musikalisch waren die Scherben auf ihrem Zenit. Doch bereits nach drei Konzerten wurde die Band auf einen Kalkulationsfehler aufmerksam gemacht, demzufolge selbst bei stets ausverkauften Konzerten am Ende der Tournee ein erhebliches finanzielles Minus stehen würde. Die laufenden Kosten seien bei Eintrittspreisen von unter 10 DM nicht einzuspielen. Allen war klar, dass Rio davon nichts erfahren durfte, wurde doch von ihm Abend für Abend überbordende Energie und Authentizität erwartet. Das Risiko den stets unberechenbaren Frontman von der Misere in Kenntnis zu setzen, schien seinem Umfeld zu unkalkulierbar. Kai Sichtermann erinnert sich: „Rio war ein Mensch mit Ecken und Kanten. Er konnte sehr lieb und sozial sein… aber es gab auch einen Rio der zornig und sehr sauer sein konnte.“ Rio bewertete das Vorgehen im Nachhinein sogar als angemessen und räumte ein: „Was hätte mir das Wissen genutzt?“
Am Ende der in vielerlei Hinsicht erfolgreichen Tournee stand die Band vor einem Schuldenberg von 200.000 bis 300.000 DM.
Video: Ton Steine Scherben, Live in der Münchner Alabamahalle, 1982
Entgegen den kursierenden Behauptungen, die Band hätte ihre einstigen Ideale verraten, war es gerade das Beharren auf Prinzipien, das ihr zum Verhängnis wurde. Kai Sichtermann räumt im Rückblick auf die Tournee ein: „Wir hatten vorgegeben, der Eintritt dürfte nur, ich weiß jetzt nicht mehr wie viel… fünf Mark waren das, glaube ich damals… und das konnte nicht funktionieren.“ Funky ergänzt: „Aber auf der anderen Seite wollte Rio natürlich auch diesen niedrigen Eintritt.“
Auch wenn sie finanziell katastrophal kalkuliert war – hätten die Scherben nur wenige DM mehr pro Ticket verlangt, wäre die Misere ausgeblieben – betrachtete die Band die zurückliegende Tournee als Erfolg. Fast alle Konzerte waren ausverkauft, es konnten neue Fans gewonnen werden und die Scherben wurden endlich als Rockband wahrgenommen, ohne von einem politischen Überbau, mit dem sie sich gezwungen sahen, nach jedem Konzert eine Hausbesetzung zu initiieren und die Revolution heraufzubeschwören, erdrückt zu werden. Folglich war laut Rio nach der Tournee kein Trübsal blasen angesagt, sondern vielmehr die Flucht nach vorne. Für den Riesenberg an Schulden musste jedoch eine Lösung her und diese wurde in Person der späteren Bundesvorsitzenden der Grünen und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth vermeintlich gefunden.
Sie hatte als Dramaturgin bei den Städtischen Bühnen Dortmund sowie bei dem von Rios Bruder Peter geleiteten Hoffmanns Comic Teater in Unna gearbeitet, war die Partnerin des Keyboarders Martin Paul, der bei der vergangenen Tournee die Scherben begleitet hatte und galt als Organisationstalent. Claudia Roth wurde zur Managerin der Band ernannt und zog 1982 mit ihrem damaligen Freund in die WG Fresenhagen ein. Dort verwaltete sie ab sofort die spärlichen Einnahmen und erinnert sich: „Es gab Zeiten, in denen Mensch und Tier dasselbe aßen.“
Sie erkannte, dass die bisherige Herangehensweise der Scherben zwar konsequent, aber dauerhaft nicht tragfähig war, wollte man denn mit der Musik seinen Lebensunterhalt bestreiten. „Wir mussten alles selber finanzieren“, blickt Roth zurück. „Die komplette Organisation lag in unserer Hand: Technik, Licht, Ton, Tourbus. Die Entscheidung, unabhängig von einer Plattenfirma zu sein, hat irgendwann dazu geführt, dass wir nicht mehr konkurrenzfähig waren.“
Roth führte eine notwendige, für die Scherben bislang unbekannte Professionalität ein. Sie schloss akzeptable Verträge ab und sorgte dafür, dass bei Tourneen fortan zumindest kein Minus mehr entstand, was zur damaligen Zeit nicht selbstverständlich war, da Tourneen oft ein Minusgeschäft waren und vorrangig dazu dienten, die Plattenverkäufe anzukurbeln.
Die Erweiterung der Band mit dem Keyboarder Martin Paul und dem Gitarristen Marius del Mestre eröffnete Rio die Möglichkeit, sich vollständig auf das Singen zu konzentrieren. Doch der im Vergleich zu seinen Kollegen deutlich jüngere Marius del Mestre erwies sich als überambitioniert und brachte mit reichlich Jägermeister und abgedroschenen Sprüchen wie „Ey, das ist Rock’n’Roll, Alter“ die konzentrierte Studioarbeit der Scherben durcheinander und Rio zur Weißglut, sodass dieser den jungen Gitarristen nach einem einstimmigen Gruppenbeschluss mit den Worten „Ey, das ist Rock’n’Roll, Alter“ feuerte.
Mestre tauchte somit auf dem leicht surrealen Cover der nächsten LP, auf dem erstmals ein Foto der Band zu sehen war, für das die Scherben bewusst eine Nacht durchgemacht hatten, um beim morgendlichen Fotoshooting übernächtigt auszusehen, bereits nicht mehr auf.

Cover des Albums „Scherben“
Musikalisch brach das fünfte, 1983 erschienene Scherbenalbum mit der Tiefgründigkeit und Experimentierfreude der „Schwarzen“. Die Scherben klangen wieder klarer und direkter und produktionstechnisch erstmals recht professionell. Aber das mit dem Massengeschmack liebäugelnde Machwerk wirkte leblos. Es fehlte die von Rio, der die Platte nicht sonderlich mochte, oft beschworene „Schüppe Dreck“.
Video: Ton Steine Scherben, Proben für die Tournee 1983:
Auch wenn die Scherben nie Geld besessen hatten, ohne dass dies ein existenzielles Problem dargestellt hatte, standen sie jetzt erdrückenden Schulden gegenüber. Claudia Roth bemühte sich mit Eifer, organisierte in Windeseile Konzerte und suchte Kontakt zu den großen, bislang verschmähten Plattenfirmen.
Im Bundestagswahlkampf 1983 spielten die Scherben für die neu gegründete Partei der Grünen, für die Rio zwar Sympathien empfand, sich aber dennoch unwohl fühlte, weil er nicht als „Barde einer Partei“ vereinnahmt werden wollte. Trotz der gut dotierten Auftritte gefiel ihm der von Claudia Roth eingeschlagene Weg zunehmend weniger und als er bei einer Veranstaltung die Bühne mit Otto Schily und Joschka Fischer teilte, sich aber später alleingelassen am spärlichen Cateringbuffet wiederfand, während die beiden Shootingstars der Grünen den Abend längst in einer exklusiven Lokalität in Frankfurt ausklingen ließen, war ihm klar, dass er nicht wirklich Teil der neuen Bewegung war, sondern lediglich als Pausenclown diente. Als er davon Wind bekam, dass die Grünen eine Pressesprecherin suchten, empfahl er seiner Managerin, sich auf die ausgeschriebene Stelle zu bewerben. Claudia Roth erhielt den Job und startete eine beachtliche politische Karriere, während Rio sich und die Band in einer Sackgasse angekommen sah. Zwar war es Roth gelungen, die vorhandenen Schulden nicht weiter anwachsen zu lassen, doch schien der Weg in die Schuldenfreiheit bei gleichzeitigem Festhalten an Prinzipien nicht machbar.


Lanrue & Rio in den 1980er-Jahren
Es war unverkennbar, dass sich die Band ihre eigenen Grundsätze nicht mehr leisten konnte. Es bestand zwar die vage Aussicht auf einen Plattenvertrag, doch Rio war skeptisch, sich an die Musikindustrie zu verkaufen. „Man kann nicht duschen, ohne nass zu werden.“ Vor allem aber war es Lanrue, der diesen Schritt vehement ablehnte. „Unser Reichtum ist unsere Unabhängigkeit und Freiheit und die will ich mir nicht nehmen lassen“, betonte er. Nachdem die Standpunkte ausgetauscht waren, war allen Beteiligten bewusst, dass die Geschichte der Band ihr unausweichliches Ende erreicht hatte. Die beträchtlichen Schulden wurden demokratisch, je nach individueller finanzieller Möglichkeit aufgeteilt. Bassist Kai entschuldigte sich kurz und besorgte von seinem letzten Geld aus einer nahegelegenen Kneipe drei Flaschen Sekt. Man stieß an, fiel sich in die Arme und erklärte das Projekt Ton Steine Scherben für beendet.
Von den einst sechzehn WG-Mitgliedern lebten fortan nur noch Lanrue mit seiner Freundin und Rio in dem riesigen Haus in Fresenhagen.

Das Jahrhunderte alte Gebäude benötigte dringend Investitionen, aber die Banken waren kaum noch bereit, Rio und Lanrue Kredite zu bewilligen. In seiner Verzweiflung bat Rio erfolgreich seine Freundin Ulla Meinecke, zu jener Zeit eine der erfolgreichsten deutschen Sängerinnen, ihm Geld zu leihen. Steve Borg, der Bassist der Kölschrockband BAP, vertraute Rio gar 50.000 DM an, während die Musikerin und einflussreiche Produzentin Anette Humpe ihm kein Geld leihen wollte, doch gab sie Rio den dringenden Rat, seine Musik endlich professionell aufzunehmen und zu vermarkten und bot ihm an, seine nächsten Songs zu produzieren und den Kontakt zu Plattenfirmen herzustellen.
Wegbegleiter erinnern sich, dass zu jener Zeit die Fröhlichkeit, die Rio als jungem Mensch innewohnte, verlorenzugehen drohte. Oft wirkte er leidend, traurig und desillusioniert. Als er 1985 bei einem Konzertabend in der Schaubühne am Leniner Platz erstmals als Solokünstler auftrat, sang er im Duett mit seiner Freundin Marianne Rosenberg und interpretierte eindringlich das durch Marlene Dietrich bekannt gewordene Friedrich-Holländer-Lied „Wenn ich mir was wünschen dürfte“ aus dem Jahr 1930. Während seines Vortrags kamen ihm die Tränen. Der Text traf ihn offenbar ins Herz. „Wenn ich mir was wünschen dürfte, möchte ich etwas glücklich sein. Denn wenn ich gar zu glücklich wär‘, hätt‘ ich Heimweh nach dem Traurigsein“, heißt es in dem Lied. „Rio war jemand, der an der Welt gelitten hat. Wenn man die Dummheit, den Irrsinn, die Gleichgültigkeit und die Gier der Menschen sieht und begreift, dann muss man diese Radikalität suchen. Aus diesem Wissen und Empfinden kam seine Sehnsucht nach dem Traurigsein“, beschreibt Rios einstiger Lebensgefährte Misha Schoeneberg.
Video: „Wenn ich mir was wünschen dürfte“, Schaubühne am Lehniner, 26. Oktober 1984:
Was aber manch einen Scherben-Fan an diesem Abend verblüfft haben mag, war Rios Songauswahl. Ein Duett mit einer Schlagersängerin? Ein Chanson aus den 1930er Jahren? Wo war der kämpferische, gradlinige Protestsänger geblieben? Doch Rio war seit seiner Kindheit, als er in seinem Elternhaus erstmals mit Musik in Kontakt kam, offen für viele Musikrichtungen. Er mochte Rock und Punk, aber auch Schlager, Jazz, Swing, Seemannslieder und Volksmusik. Mit dem Auftritt in der Schaubühne deutete er mögliche Verwandlungen an.