“Smokefall“ von Noah Haidle am Staatstheater Kassel
Ergibt es Sinn auf die Welt zu kommen?
Mit “Smokefall“ von Noah Haidle kann das Staatstheater Kassel – nach “Lucky Happiness Golden Express“ (Spielzeit 2013/2014) – erneut eine deutschsprachige Erstaufführung des US-amerikanischen Autors präsentieren. Haidle überzeugt dabei abermals als ausgezeichneter und kluger Geschichtenerzähler.
Nach der erfolgreichen Uraufführung von “Lucky Happiness Golden Express“ in der Inszenierung von Thomas Bockelmann zum Auftakt der Spielzeit 2013/14, setzt das Staatstheater Kassel erfreulicherweise die vielversprechende Zusammenarbeit mit dem Autor Noah Haidle fort. Diese Kooperation entspricht dem ausdrücklichen Wunsch des Intendanten, der auch für die Inszenierung von “Smokefall“ verantwortlich ist. Wie bereits im Vorjahr wird dem Publikum eine ungewöhnliche, vielschichtige und ausgesprochen klug konstruierte Geschichte erzählt.
Zu Beginn erlebt der Zuschauer eine typisch wirkende amerikanische Familie. Violet, die mit Zwillingen schwangere Mutter, bereitet das Frühstück zu, während sich Ehemann Daniel auf den bevorstehenden Arbeitstag im Büro vorbereitet. Die gemeinsame Tochter Beauty wird ebenfalls bald aufbrechen und das Haus verlassen, um zur Schule zu gehen. Wie bereits in “Lucky Happiness Golden Express“ verortet Autor Haidle seine bizarre Geschichte in eine – zumindest auf den ersten Blick – gewöhnliche Familie.
Erneut erweist sich gerade diese soziale Gemeinschaft als besonders geeignet, um eine vielschichtige und absonderliche Geschichte zu entwickeln, denn schon bald tauchen erste Seltsamkeiten auf. Der Colonel, Violets Vater, leidet unter Demenz und plaudert aus seinem vergangenen Sexualleben, die sich von Erde ernährende Tochter spricht kein Wort und Ehemann Daniel hat den Plan gefasst, sich im Büro krank zu melden und nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Was läuft schief in dieser Familie?
Während die Familienmitglieder gegenseitig ihr verstörendes Verhalten zu ignorieren scheinen, ein nicht eben untypisches Merkmal von Familien, stellen sich für den Zuschauer erste Fragen. Welche Rolle kann das einstige, nunmehr erkrankte Familienoberhaupt noch einnehmen? Warum verlässt der Familienvater und werdende Vater von Zwillingen die Familie? Was hat Tochter Beauty zu solch einem absurden Essverhalten veranlasst?
Als Mutter Violet den noch ungeborenen Brüdern Samuel und Johnny erklärt, was sie schon bald erwartet, fragt man sich unwillkürlich, ob es sich dabei um eine Verheißung, ein Versprechen oder eher eine Drohung handelt. “Wisst ihr, was eine Familie ist? Bald wisst ihr es. Bald gehört ihr dazu.“ Mit dem Einsetzen der Wehen beginnt der zweite Akt des Familiendramas. Im Mutterleib führen die beiden Föten Samuel und Johnny einen rasanten Diskurs. Da sie bereits akustisch einige Eindrücke von ihrer zukünftigen Umwelt sammeln konnten, diskutieren sie auf philosophisch hohem Niveau, ob die unmittelbar bevorstehende Geburt tatsächlich ein erstrebenswertes Ereignis ist.
Musste man als Zuschauer zu Beginn womöglich noch genauer hinschauen, um die Risse im Familienglück zu erkennen, gerät die Welt jetzt zusehends ins Rutschen und förmlich aus den Fugen.
Im Schlussakt verwebt Haidle furios unterschiedlichste Ebenen miteinander und lässt Erinnerungen, Vergangenes, Zukünftiges, Reales und Phantastisches ineinander verschmelzen.
Noah Haidle erzählt eine Familiengeschichte über drei Generationen. Er reist mit den Protagonisten durch die Zeit und spürt berührend, voller Liebe, mit Humor ebenso wie mit Traurigkeit deren Versuchen nach, das Leben zu meistern.
Thomas Bockelmann gelingt es mit seiner Inszenierung souverän all diese verschiedenen Ebenen, die Haidles Text beinhaltet, stimmig und stets nachvollziehbar zusammenzuführen, ohne diese dabei zu glätten. Brüche hinsichtlich Zeit und Ort werden oftmals durch den geschickten und gekonnten Einsatz von Sound (Heiko Schnurpel) und Licht (Oskar Bosmann) unterstützt. Ausgesprochen gelungen ist auch das Auftauchen einer “lebenden Fußnote“, die die Handlung kommentiert und vorantreibt. Etienne Pluss hat zudem ein wunderbares Bühnenbild entwickelt, das die aus den Fugen geratene Welt brillant veranschaulicht.
“Ist es besser nicht geboren zu sein?“, ist eine der zentralen Fragen, die das Stück sowie die beiden ungeborenen Föten im Mutterleib aufwerfen. Letztlich kreisen die Protagonisten auf der Bühne, suchend nach Antworten, um dieses Rätsel. Eva Maria Sommersberg spielt die Tochter Beauty, eine Suchende, die “nichts mehr zu sagen hat“, sich nach Streitigkeiten ihrer Eltern für die Familie opfert und “noch keine Ruhe findet“. Mutter Violet versucht ein Paradies zu schaffen und ahnt, dass dieses zerbricht. Christina Weiser gelingt es, die Bemühungen und Belastungen dieser Figur auch über eine große Altersspanne hinweg spürbar zu machen. “Werde ich morgen wissen, wie das geht… leben?“
Jürgen Wink überzeugt in seiner Doppelrolle (Violets Vater & Johnny als Erwachsener). Als dementer Colonel versucht er unermüdlich und doch vergebens Puzzlestücke und Erinnerungen zu einem Ganzen zusammenzufügen. In dieser Figur bekommt der Aspekt der sich verschiebenden und relativierenden Zeitebenen, mit denen Haidle spielt, eine besondere Relevanz, denn aufgrund seiner Demenzerkrankung erlebt der Colonel Dinge immer und immer wieder. Sein Leben gleicht einer Wiederholungsschleife mitsamt der Tragik, dass er auch schrecklichste Erkenntnisse, wie den Tod seiner Ehefrau, immer wieder neu durchleben muss.
Daniel, Violets Mann, verkörpert von Bernd Hölscher, fühlt sich nicht heimisch im Haus seines Schwiegervaters. Er findet hier keine Ruhe und sucht sein Glück in der Ferne. Er zieht Richtung Westen, wo in Amerika seit jeher das Glück verortet scheint. Christian Ehrich, neu im Ensemble des Staatstheaters Kassel, kommentiert als Fußnote das Geschehen, spielt den mutigen der beiden Föten und schließlich auch noch Samuel, Johnnys Sohn. Drei sehr unterschiedliche Rollen für den jungen Schauspieler, der zudem auch noch Gitarre spielt und als Sänger zu beeindrucken weiß. Man darf sich in Kassel auf weitere Rollen des offenkundig vielseitig talentierten Künstlers freuen.
Die Zeitebenen, mit denen Haidle im letzten Akt so furios umgeht, sind nicht Selbstzweck, sondern treffen den Kern des Stückes, denn in “Smokefall“ geht es um Zeit. Der Titel spielt auf ein Gedicht des Lyrikers T.S.Eliot an, in dem es heißt: “Der Augenblick in der zugigen Kirche als der Rauch sank… nur durch Zeit wird Zeit überwunden.“ Eliot lehnte die starre Aufteilung von Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ab und proklamierte, dass in jedem erlebten Augenblick Vergangenes und Zukünftiges enthalten sind.
Wir werden in eine Realität hineingeboren, die seit Generationen gestaltet wurde und die wiederum uns prägt. Ist unsere Familie “ein zufälliges Kollektiv von Leuten, die in einer Wohngemeinschaft leben“ (Fötus im Mutterleib) oder der Platz, an dem wir verwurzelt sind, um zu wachsen und Zweige entstehen zu lassen, wie der das Bühnenbild sprengende Apfelbaum?
Warum entwickeln sich Dinge in unserem Leben in einer bestimmten Art und Weise? Hätte alles auch ganz anders verlaufen können?
“Smokefall“ ist ein rätselhaftes Stück, das viele Fragen aufwirft. Ergibt es überhaupt Sinn, auf die Welt zu kommen? Und ist es erst einmal geschehen, wie kann dann ein glückliches, erfülltes Leben gestaltet werden? Danach suchen die Protagonisten auf der Bühne und haben Angst davor, keine Antwort zu finden.
Auch wenn Haidles Stück nicht gerade übersteigerte Illusionen aufkommen lässt, so versteht der Autor es doch, den Figuren Würde zu verleihen. Sie zweifeln, sie straucheln, sie fallen hin … sie stehen auf, suchen und leben weiter.
Das Publikum hat in Kassel die Gelegenheit eine großartig erzählte, klug konstruierte und vielschichtige Geschichte zu erleben. Haidles Gabe ist es darüber hinaus seine Figuren stets liebevoll zu zeichnen, sie nicht zu bewerten oder sie gar in ihrem steten, mitunter fehlerhaften Bemühen, das Leben zu meistern, zu verurteilen. Und auch Regisseur Thomas Bockelmann hat bei seiner Inszenierung abermals bewiesen, dass er es versteht, dem Zuschauer Haidles Figuren sehr nahekommen zu lassen. Darüber hinaus lohnt sich der Weg nach Kassel sowie das Eintrittsgeld aber bereits, um einmal philosophierende Föten zu erleben.