“Hedwig and the Angry Inch“ in der Brotfabrik Frankfurt
Hommage an das Anderssein
Off-Musical Frankfurt bringt das Musical “Hedwig and the angry Inch“ in einer neuen Inszenierung auf die Bühne der Brotfabrik Frankfurt. Das Publikum erlebt dort einen unterhaltsamen und berührenden Abend, der die Individualität feiert.
“I was born on the other side of a town ripped in two“, lautet die erste Zeile im Eröffnungssong “Tear me down“. Ebenso wie die in zwei Hälften gerissene Stadt – die Rede ist von Berlin vor dem Mauerfall – ist die Sängerin, die mit wallender, blonder Lockenpracht, Plateauschuhen und grünem Samtkleid auf der Bühne steht, eine zutiefst zerrissene Persönlichkeit. Ihr Mann Yitzhak charakterisiert sie: “Hedwig ist wie die Mauer, steht vor Euch auf der Grenze zwischen Ost und West, Unterdrückung und Freiheit, Mann und Frau, oben und unten.“
Der Autor dieses Artikels ist wahrlich kein leidenschaftlicher Musical-Fan. Die Stories erscheinen mir oftmals belanglos, die Songs nicht am Klavier, sondern an der Registrierkasse geschrieben und die Inszenierungen häufig auf pompöse Effekthascherei ausgelegt. Doch dann habe ich vor einigen Monaten erstmals “Hedwig and the angry Inch“, das am vergangenen Freitag Premiere in Frankfurt feierte, gesehen. Völlig unerwartet habe ich dabei gelacht, geweint und hatte nach der Vorstellung Melodien im Ohr, die mich nicht mehr losließen. Die Geschichte um Hedwig scheint ein Musical für jene zu sein, die nicht ahnen, dass ihnen diese Kunstform jemals gefallen könnte.
Die talentierte, doch international ignorierte Rock-Chanteuse Hedwig wird auf ihrer Welttournee mit der eigenen tragikomischen Vergangenheit konfrontiert: Als Hänsel Schmidt in Ost-Berlin aufgewachsen, überredet sie der amerikanische GI Luther zur Übersiedlung in die USA und zur Geschlechtsumwandlung. Leider geht diese katastrophal schief und von ihrem Glied bleibt ein “Angry Inch“ zurück. Verlassen und ausgenutzt, heimatlos und weder Mann noch Frau, führt Hedwig ihr Weg in die Frankfurter Brotfabrik. Sie ahnt nicht, dass dieses Konzert ihr Leben für immer verändern wird.
Hedwig ist auf der Suche nach Anerkennung und Verständnis. Sie wandelt auf einem Pfad zwischen Mann und Frau, ist von Ost-Berlin in die USA ausgewandert, tourt mit ihrer Band “The Angry Inch“ um die Welt und hat ihre wahre “Heimat“ noch nicht gefunden. Auch wenn wir nicht wissen, ob Autor John Cameron Mitchell sich von der Heiligen Hedwig (Hedwig von Andechs, 1174-1243) zu der Namensgebung seiner Hauptfigur inspirieren ließ, ist es doch bemerkenswert, dass diese im christlichen Glauben als Symbol für alle Heimatsuchenden gilt.
1997 feierte das Stück im New Yorker Greenwich Village Premiere. Nach schwierigem Anlauf sorgten positive Kritiken und nicht zuletzt Besuche von Rockmusikern wie Pete Townshend, David Bowie, Lou Reed, Laurie Anderson und Joey Ramone für zunehmende Popularität. 2014 erfolgte gar die Premiere am Broadway mit “How I Met Your Mother“-Star Neil Patrick Harris in der Hauptrolle. In Deutschland wurde “Hedwig and the angry Inch“ mehrfach aufgeführt – zuletzt in einer überzeugenden Inszenierung von Philipp Rosendahl in Kassel.
Als “The best rock musical ever“ betitelte einst der “Rolling Stone“ das Musical von John Cameron Mitchell und Stephen Trask. Um diesem Ruf gerecht zu werden, arbeitet Off-Musical Frankfurt bei ihrer Produktion mit einem hochkarätigen Team zusammen: Thomas Heep, der bereits an Musical-Produktionen wie “Jesus Christ Superstar“, “Cabaret“ und zuletzt bei der deutschsprachigen Erstaufführung von “Die Brücken am Fluss“ am Theater Trier beteiligt war, führt Regie. Als musikalischer Leiter fungiert Dean Wilmington, der 17 Jahre lang Dozent an der Bayerischen Theaterakademie August Everding war und die musikalische Leitung bei Musicals wie “Rent“, “Frühlings Erwachen“ und “Die Brücken am Fluss“ übernahm.
Die Erstbesetzung der Hedwig übernimmt Michael Kargus, bekannt durch seine Engagements bei “Wicked“ (Stuttgart), “Spamalot“ (Köln), “Jesus Christ Superstar“ (Solingen/Remscheid), “Cabaret“ (Berlin) und “Luther – Rebell Gottes“ (Fürth). An ausgewählten Terminen steht Newcomer Lukas Witzel aus Mainz (“In the Heights“, “tick“¦tick“¦BOOM!“, “Wemmicks“) als alternierende Besetzung der Hedwig auf der Bühne. Die Rolle des Yitzhak wird von Kathrin Hanak verkörpert, die unter anderem bereits in “Frühlings Erwachen“ (München), “Rent“ (Trier) und “Avenue Q“ (München) zu sehen war. Außerdem lieh sie der Figur Queenie Goldstein im Film “Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“ als Synchronsprecherin in der deutschen Fassung ihre Stimme.
Die Frankfurter Brotfabrik erweist sich als idealer Ort für die Produktion. Die vergleichsweise kleine Bühne lässt eine authentische, intime Atmosphäre entstehen, bei der die Zuschauer eine Nähe zu Hedwig aufbauen, stets in das Geschehen auf der Bühne involviert werden könnten und somit von der Geschichte Hedwigs intensiver berührt werden, als dies bei einer Show in einem großen Theatersaal der Fall wäre.
Die Figur Hedwig besitzt einen vielschichtigen und daher spannenden Charakter. Was zunächst als bunte Dragshow zu starten scheint, entwickelt sich zunehmend zu einer intimen Reise der Selbstfindung und auch das Publikum erkennt bald, dass sich hinter der Maske und den vulgären Anzüglichkeiten, mit denen Hedwig ihr Publikum unterhält und sich letztlich schützt, ein zerbrechlicher Mensch steckt. Sie durchläuft im Verlaufe des Abends eine Vielzahl von Emotionen – und Dank der intimen Atmosphäre, durchläuft das Publikum diese mit ihr -, die Hauptdarsteller Michael Kargus überzeugend darstellt und somit viele Facetten zeigen darf.
Es geht in diesem Musical um das “anders sein“ und darum, was es bedeutet, als Außenseiter zu leben. Es geht um Geschlechterrollen und letztlich um Liebe. Hedwig, die ihre Sehnsüchte stets auf andere zu projizieren scheint und ihre Erfüllung in Abhängigkeiten sucht, indem sie ihr Schicksal in die Hände anderer legt, wird stets enttäuscht und ausgenutzt. In einem schmerzvollen Prozess, der ungeplant auf der Bühne erfolgt, erkennt sie sich zunehmend selbst, kann ihre Individualität erkennen, annehmen und feiern.
“Hedwig and the angry Inch“ kann als “Hommage an das Anderssein“ verstanden werden und auch wenn manche Aspekte mittlerweile nicht mehr derart schockieren mögen wie noch zur Zeit der 20 Jahre zurückliegenden Uraufführung, scheint die Botschaft nach wie vor bedeutend – insbesondere in einer Zeit, in der Ängste mit all ihren Schattierungen die gesellschaftlichen Diskussionen zu bestimmen scheinen. Doch Angst ist ein sprichwörtlich schlechter Berater und in unsicheren Zeiten gilt dies allemal. Die Psychologie hat längst erkannt, dass Angst nicht selten zum dogmatischen Festhalten an als Tradition empfundenen Werten führt und erheblich zur Vermeidung, sich mit neuen Gedanken auseinanderzusetzen, beiträgt.
Ein Gefühl der Bedrohung scheint von allem auszugehen, was “anders“ ist, weshalb Individualität es schwer hat, sich in einer von Angst beherrschten Atmosphäre zu entfalten. Somit ist es gleichermaßen bezeichnend, erschütternd und empörend, wenn ein gewählter Abgeordneter der AfD, jener Partei, die fortwährend Ängste erzeugt, begierig aufgreift und sich bewusst zunutze macht, im Landesparlament von Sachsen-Anhalt auf Ausführungen einer Parlamentarierin zur Diskriminierung und staatlichen Verfolgung Homosexueller in mehreren nordafrikanischen Staaten mit dem Zwischenruf reagiert: “Das sollten wir in Deutschland auch machen!“
Wer Lust hat die Andersartigkeit und Individualität zu feiern… wer eine berührende, intelligent erzählte Geschichte, bei der es Grund zum Weinen und zum Lachen gibt, erleben möchte… wer nicht vor anzüglichem Humor erschrickt… wer sich einen Abend mit guter Musik und einer Inszenierung, die sich auf das Wesentliche (nämlich die Geschichte) konzentriert, wünscht… wer sich überzeugen lassen möchte, dass ein Musical ganz anders sein kann als gewohnt, sollte sich auf den Weg in die Frankfurter Brotfabrik machen!