„Hotel Chelsea“ am Staatstheater Kassel
„Der Höhepunkt des Surrealen“
Das Staatstheater Kassel lädt zu einer verschrobenen Zeitreise in die legendären Jahre des New Yorker Chelsea Hotels ein. Die skurrile Hommage an das mittlerweile nicht mehr existente Hotel bereitet dem Publikum großen Spaß und bietet zahlreiche musikalische Höhepunkte.
Mit dem Klingeln des Telefons an der Hotelrezeption des New Yorker Chelsea Hotels bahnte sich am späten Vormittag des 12. Oktobers 1978 eine Tragödie an. Ein Angestellter nahm den Anruf – der nachweislich von außerhalb des Hotels kam – entgegen, woraufhin eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung erklärte: “Es gibt Schwierigkeiten in Zimmer Nr. 100“. Ein Page wurde geschickt, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Dieser musste nach Betreten des Raumes schaurige Entdeckungen machen. Das große Bett war blutgetränkt und im Badezimmer fand er den spärlich bekleideten, blutüberströmten Körper einer platinblonden, jungen Frau. Die eiligst herbeigerufenen Sanitäter konnten nur noch ihren Tod feststellen.
Das Opfer war Nancy Spungen, die das Zimmer mit Sid Vicious, dem Bassisten der Punkband “The Sex Pistols“, geteilt hatte. Den Musiker fand man rasch in unmittelbarer Nähe des Zimmers auf dem Hotelflur, wo er weinend und offenbar verwirrt auf und ab ging. Sein Gesicht wies Spuren einer heftigen Schlägerei auf und er stammelte: “Ich habe sie umgebracht. Ich kann nicht ohne sie leben. Sie ist auf das Messer gefallen.“
Gegen Zahlung einer Kaution wurde der Musiker auf freien Fuß gesetzt, bezog erneut das Zimmer Nr. 100, wo er sich eine Überdosis Heroin injizierte, und in dem gleichen Zimmer verstarb, wie zuvor seine Freundin Nancy. Wer der ominöse erste Anrufer am Morgen des 12. Oktobers 1978 war, konnte indes nie ermittelt werden.
Im Staatstheater Kassel wird den ZuschauerInnen ein Blick in die Welt dieses legendären Hotels gestattet. Nach dem Einchecken können diese in die mittlerweile abgewrackte, düstere, durch flackerndes Licht illuminierte Hotellobby blicken, in der allerlei verstorbene Seelen herumschwirren, was nicht weiter verwundert, da es seit jeher heißt, dass in der Lobby und den langen Gängen des Hotels Spukgestalten ihr Unwesen treiben. Der Zahn der Zeit nagt sicht- und spürbar am Gebäude, doch der Mythos lebt. Der Geist von Sid Vicious erscheint, verwandelt den Sinatra-Klassiker „My Way“ in einen Punk-Song und begeistert wie vor rund 35 Jahren das überraschte Publikum.
Seinen legendären Ruf hat sich das Chelsea Hotel, in dem zahlreiche MusikerInnen, SchriftstellerInnen und KünstlerInnen wohnten, insbesondere in den 1960er-Jahren durch die New Yorker Undergroundkunstszene rund um Andy Warhol erworben, die sich von dem Ambiente des Hotels zu allerlei Aktivitäten beflügeln ließ. 1966 setzte Warhol mit seinem Experimentalfilm “The Chelsea Girls“ der Künstlerabsteige und ihren BewohnerInnen ein Denkmal. Ein Film, der die abgründigen Seiten des modernen Großstadtlebens – mit exzessivem Drogengebrauch, sexuellen Perversionen, Psychoterror, Paranoia und Narzissmus – offenlegte. Und auch auf der Bühne in Kassel findet sich Warhol mit der unvermeidlichen Kamera in den Händen wieder und hält die Geschehnisse fest.
Die „Godmother of Punk“ Patti Smith wohnte mit ihrem damaligen Lebensgefährten Robert Mapplethorpe mittellos im Chelsea Hotel und beschrieb ihre Wohnstätte als „ein Puppenhaus, mit Hunderten von Zimmern, von denen jedes ein eigenes kleines Universum barg.“ Einige dieser Zimmer werden im Verlauf des Theaterabends geöffnet und dem Publikum ein Einblick gewährt.
Dabei überrascht die Inszenierung und sorgt womöglich anfangs für Verwirrung und Ratlosigkeit. Auf der Bühne wird nicht gesprochen und es entfaltet sich keine lineare Handlung, stattdessen ereignen sich Szenen parallel und das Geschehen bleibt teils fragmentarisch. Es entsteht der Eindruck, in einer belebten Hotellobby zu sitzen und dem illustren Treiben um sich herum zuzuschauen, wobei es ungeheuer vieles zu entdecken gibt. Das Bühnengeschehen ist geprägt von Anspielungen auf Persönlichkeiten und Ereignisse der 60er und 70er Jahre, die mit dem Hotel im Zusammenhang stehen.
In dem zwölfstöckigen, roten Backsteingebäude haben sich vielerlei bemerkenswerte Geschichten ereignet. Mark Twain und Thomas Wolfe lebten hier und die Poeten Allen Ginsberg und Gregory Corso wählten den Ort in den 1950er-Jahren für ihren intellektuellen Austausch. Humphrey Bogart verbrachte in den Hotelkissen seine Hochzeitsnacht mit Lauren Bacall. Die Schriftsteller und wichtigsten Vertreter der Beat-Generation Jack Kerouac und William Burroughs verfassten hier ihre Hauptwerke. Musiker wie Joni Mitchell, John Lennon, Keith Richards, die Mitglieder von Pink Floyd und Jimi Hendrix, der von einer älteren Dame für einen Hotelpagen gehalten wurde und bereitwillig die Koffer auf das entsprechende Zimmer schleppte, verbrachten hier manche – wohl nicht immer ganz ruhige – Nacht.
Auch Dylan Thomas lebte hier, wobei er zu den tragischen Figuren zählte, die das Hotel liegend auf einer Trage verlassen mussten. “Das muss ein Rekord sein“, verkündete er stolz, als er im November 1953 nach 18 Whiskeys in der nahe gelegenen White Horse Tavern die Rezeption erreichte, bevor er dort zusammenbrach und wenige Tage später im Krankenhaus verstarb. Bob Dylan verfasste seinen Song “Sad Eyed Lady Of The Lowlands“ in Zimmer 211, Arthur C. Clarke entwickelte das Drehbuch zu “2001 – A Space Odyssey“, Mark Rothko nutze den alten Speisesaal als Atelier und Leonard Cohen erinnert sich in seinem Song “Chelsea Hotel No.2“ an einen Blowjob, den er auf seinem ungemachten Hotelbett von Janis Joplin empfing.
Der österreichische Musiker Falco drehte 1984 vor Ort ein Video zu dem Titel “No answer“, in dem er telefonierend auf einem der Hotelbetten liegt, während sich eine dunkelhaarige Schönheit, lediglich mit einem weißen String bekleidet, verführerisch neben ihm räkelt. Ihren String legte knapp 10 Jahre später Madonna ab und tauschte ihn gegen schwarze Lackstiefel, um sich in Zimmer 822 für ihren Erotikbildband “Sex“ ablichten zu lassen.
Drehbuchautor und Schriftsteller Arthur Miller lieferte sich mit Marilyn Monroe einen handfesten Streit in der Lobby und verarbeitete seine Ehe mit dem Filmstar in seinen Tagebüchern, die er im Chelsea Hotel verfasste. In einem Essay mit dem Titel “The Chelsea Effect“ schrieb er: “Dieses Hotel passt nicht zu Amerika. Es gibt keine Staubsauger, keine Regeln und keine Scham. Es ist der Höhepunkt des Surrealen.“
Entsprechend surreal wirkt auch das Geschehen auf der Bühne. Der belgische Regisseur, Performer und Autor Stef Lernous hat die intensive und skurrile Hommage an das Chelsea Hotel erdacht und die Performance mit Ensemblemitgliedern aus Mechelen sowie aus Kassel besetzt. Die SchauspielerInnen agieren übersteigert, grimassieren und erscheinen raum- und zeitlos. Die rauschhafte Performance wird anfangs von einem ausgeklügelten Sounddesign begleitet, bevor der Livesound zunehmend die Oberhand gewinnt. Das musikalisch talentierte Ensemble präsentiert legendäre Songs einstiger HotelbewohnerInnen und sorgt damit für die mitreißenden Höhepunkte des Abends, wie die Publikumsreaktionen nachdrücklich zeigen.
Als Reminiszenz an den 2002 verstorbene Punkmusiker Dee Dee Ramone, der das Zimmer mit der Nummer 100 bewohnt und dort die Novelle “Chelsea Horror Hotel“ verfasst hat, erfolgt als Zugabe der Ramones-Klassiker „Blitzkrieg Bop“. Auch wenn der Song im Staatstheater Kassel keine Pogotänze und fliegenden Bierflaschen wie noch vor 45 Jahren hervorruft, hält es das Publikum nun nicht mehr auf den Sitzen.
65 Jahre lang wurde im Chelsea Hotel gemalt, geschrieben, komponiert, gefeiert, gestritten, gevögelt, gekokst und gesoffen. 2007 wurde der kunstliebende Manager abgesetzt, das Hotel verkauft und der Komplex zu einem Luxushotel umgebaut. Ein langjähriger Angestellter fasste die bewegte Vergangenheit des Hauses zusammen: “Das Schöne am Chelsea war, dass es die Menschen einfach sein ließ, egal, wie schräg sie drauf waren. Solange sie anderen nichts zuleide taten.“
Das Staatstheater Kassel hält mit der Produktion den Mythos des Chelsea-Hotels am Leben, lädt zu einer verschrobenen Zeitreise ein, die – wie man den lächelnden Gesichtern der ZuschauerInnen im Anschluss an die Vorstellung entnehmen kann – großen Spaß macht.