“Moby-Dick“ am Staatstheater Kassel
“Die Welt des Wals“
Die Inszenierung des epischen Romans “Moby-Dick“ als Ein-Personen-Stück ist ein ambitioniertes Projekt, das in Kassel – trotz eines großartigen Schauspielers (Jürgen Wink) – leider nicht vollauf überzeugt.
Als ich vor einigen Jahren bei dem Besuch einer Tiershow das Glück hatte, zu erleben wie ein Weißkopfseeadler unmittelbar neben meinem Kopf vorbeisegelte, traten mir augenblicklich vor Rührung die Tränen in die Augen. Der Grund war vermutlich ein Konglomerat von Gedanken und Gefühlen, die von der Wahrnehmung der ungeheuren Schönheit und Grazie mit der dieses Tier dank seiner enormen Spannweite, die meine eigene Körpergröße übersteigt, eine beachtliche Strecke zurücklegt, ohne auch nur einmal mit seinen Flügeln zu schlagen, sowie der Gewissheit, dass seine Vorfahren seit erheblich längerer Zeit die Erde bewohnen als meine, ausgelöst wurden.
All dies löste bei mir ein Gefühl von Geringfügigkeit, bestenfalls Mittelmäßigkeit, aus – gepaart mit der klaren Erkenntnis, der Absurdität, dass dieses Tier zu meinem Vergnügen in niedersächsischer Gefangenschaft lebt, statt erhaben über die nordamerikanische Seen- und Küstenlandschaften zu segeln. Meine Tränen waren ein Ausdruck von Ehrfurcht. Ähnlich würde es mir vermutlich beim Betrachten eines dicht neben mir schwimmenden Wales ergehen, der trotz seines enormen Umfangs und Gewichtes in den Tiefen des Ozeans elegant seine Bahnen zieht und dies bereits seit dem Eozän, dem Erdzeitalter, das vor etwa 55 Millionen Jahren begann und vor 34 Millionen Jahren endete.
“Vom Weltall aus gesehen, ist der Planet ein blauer. Vom Weltall aus gesehen, ist der Planet die Welt des Wals. Und nicht des Menschen“, hat es der britische Autor und Schauspieler Heathcote Williams in seinem epischen Text “Kontinent der Wale“ formuliert.
“Nennt mich Ismael“, beginnt die Jahrhundertgeschichte über einen sagenumwobenen Wal namens Moby Dick und seinen Widerpart Captain Ahab.
Um seiner Melancholie zu entfliehen, heuert jener Ismael auf dem Walfangschiff “Pequod“ an, das bezeichnenderweise nach einem ausgerotteten Stamm amerikanischer Ureinwohner, die nach langem erbitterten Widerstand 1632 vernichtend geschlagen wurden, benannt ist und als Abbild der amerikanischen Gesellschaft, die auf dem erbarmungslosen Austilgen der einstigen Bevölkerung basiert, interpretiert werden kann. Das Schiff führt den Erzähler auf eine Reise, die ihn von der menschlichen Zivilisation in unbekannte, geheimnisvolle Welten und zum Kern des Daseins führt.
Autor Herman Melville sprengt auf fast 1000 Seiten sämtliche Literaturgattungen, streift Themen wie das Wesen des Menschen, Religion und Natur“¦ kurz die gesamte Welt. Einen derartig monumentalen Stoff auf eine Theaterbühne zu bringen und noch dazu als Ein-Personen-Stück, ist – vorsichtig gesagt – ambitioniert, und das Vorhaben erweist sich bei der Kasseler Produktion, unter der Regie von Marco Storman, als zu groß.
Bereits die bunte, einem Comic entsprungene Plastikpalme auf der Bühne verdeutlicht einen Ansatz der Inszenierung, die der epischen und düsteren Geschichte offenbar ein wenig ihrer Bedeutungsschwere nehmen möchte. Eine erhebliche Reduktion ist bei einer fast 1000 Seiten umfassenden Vorlage ohnehin unumgänglich und so mag mancher Zuschauer Elemente der Geschichte, wie die Mitglieder der Crew oder den finalen Kampf mit dem Wal, vermissen und selbst Ahab und Moby Dick tauchen lediglich andeutungsweise auf.
Dies ist sicherlich legitim, aber letztlich erschließt sich nicht, worauf die Regie abzielt. Mit einer Leinwand im Bühnenhintergrund, auf der mitunter allzu plakativ von Menschen begangene Umweltsünden projiziert werden, wird eine weitere Ebene hinzugefügt. Die Handlung pendelt zwischen hochdramatischen und komödienhaften Szenen. Am Ende singt Jürgen Wink in zweifelhafter Kostümierung das melancholische “Where are we now?“ von David Bowie.
Doch die zahlreichen Regieideen fügen sich leider nicht zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen. “Es gibt manche Unternehmungen, in denen ist eine sorgsame Unordnung die beste Methode“, äußert Ismael, nachdem er bei dem Versuch eine umfassende Walsystematik zu erstellen, gescheitert ist. An diesem Theaterabend herrscht ebenfalls viel Unordnung, doch als Methode funktioniert diese nicht.
Dem Regiekonzept entsprechend wirkt die Bühne (Demian Wohler) wie ein Gemischtwarenladen, in dem Requisiten nach Bedarf hervorgeholt und weggeräumt werden. Einzig das mittels eines Stangengerüstes angedeutete Schiff funktioniert recht gut, regt die Fantasie des Publikums an und bietet mit seinen unterschiedlichen Ebenen und Ausformungen Jürgen Wink zahlreiche Möglichkeiten zu agieren.
Dieser glänzt mit einer bemerkenswerten Darstellung. Dank seiner Präsenz sowie angenehmer und variantenreicher Stimme gelingt es ihm, die Aufmerksamkeit des Publikums über zwei Stunden aufrechtzuerhalten. Um die große Bühne des Staatstheaters alleine, was mit viel Text und vergleichsweise wenig Interaktion einhergeht, zu bespielen, bedarf es eines versierten Schauspielers und als solch einer erweist sich Jürgen Wink, der trotz kritischer Stimmen im Publikum bezüglich der Inszenierung, zurecht mit viel Applaus für seine außergewöhnliche Leistung bedacht wird.
Wenngleich damalige Leser und Kritiker “Moby-Dick“ für schlicht unlesbar hielten, hat Herman Melville (1819 – 1891) mit seinem Roman eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur hinterlassen. Die schriftstellerische Laufbahn Melvilles, der als junger Matrose auf Walfangschiffen diente und zahlreiche persönliche Erfahrungen in das Werk einfließen ließ, war nach der Veröffentlichung mehrerer erfolgreicher Abenteuerromane jedoch mit dem völligen Misserfolg von “Moby-Dick“ beendet, sodass er sich fortan gezwungen sah, als Zollinspektor im Hafen von New York sein Geld zu verdienen.
In seinem großen unverstandenen Fehlschlag erzählt Melville von der Jagd auf einen Wal und gleichsam die Geschichte des modernen Menschen und seiner Kämpfe gegen die unbeherrschbare Natur, die letztlich im absehbaren Untergang enden, denn obwohl der Menschen in der Lage ist, zu analysieren und zu reflektieren, fällt ihm die Veränderung seines Verhaltens offenbar nicht weniger schwer als seiner natürlichen Umgebung.
Die aktuelle Klimadebatte mag einem in den Kopf kommen, bei der die Bandbreite der Meinungsäußerungen vom Verleugnen der Tatsachen, über neoliberale Lösungsansätze, mit deren Hilfe die fatalen Folgen des Wirtschaftswachstums durch weiteres Wachstum bekämpft werden sollen, bis hin zu linksorientierten Positionen, die die soziale Ausgewogenheit in das Zentrum der Überlegungen stellen, reicht. Sämtliche Standpunkte vereint die Annahme, das bestehende Problem zum Nutzen des Menschen lösen zu müssen. Der Gedanke die Umwelt (bereits das Wort ist verräterisch, stellt es doch den Menschen in das Zentrum der Betrachtung) um ihrer selbst willen für schützenswert zu halten, findet keinerlei Beachtung.
Nachdem die Wale seit mehr als 40 Millionen Jahren majestätisch die Meere durchquert haben, finden sie sich heute in der bedauernswerten Situation wieder, bezüglich ihres Überlebens auf den Menschen angewiesen zu sein – eine unberechenbare Spezies, die bewiesen hat, “dass sie Regenwälder ebenso leicht verwüsten, wie Sinfonien komponieren kann.“ (Jean-Michel Cousteau)
Mit “Moby-Dick“ hat Melville eine komplexe Parabel über die Schicksalsgemeinschaft von Natur und Mensch niedergeschrieben. Wir, die wir uns anmaßen mittels Vermessung und Kategorisierung die Deutungshoheit über die Welt zu besitzen, sollten uns vergegenwärtigen: “Vom Weltall aus gesehen, ist der Planet ein blauer. Vom Weltall aus gesehen, ist der Planet die Welt des Wals.
Und nicht des Menschen.“