Unterwegs in… Günzburg
Petra Kelly – Teil 1: Von Günzburg in die weite Welt
„Es ist, als ob ich verrückt wäre,
aber ich werde von meinem Herzen zu immer mehr und besserem getrieben.“
(Petra Kelly)
Die deutsche Politikerin Petra Kelly war zu Lebzeiten ein weltweit gewürdigte Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin, Mitbegründerin der Partei Die Grünen und Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Dennoch scheint diese außergewöhnliche und streitbare Frau in Deutschland und selbst in ihrer einstigen Partei weitgehend vergessen.
Am 29. November 1947 wurde Petra Karin Lehmann im schwäbischen Günzburg als einzige Tochter von Margarete Marianne Birle und Richard Siegfried Lehmann geboren. Während in großen Teilen Deutschlands das Chaos der Nachkriegsjahre und der Wiederaufbau den Alltag der Menschen bestimmten, wuchs das Mädchen in der vom Krieg nur marginal berührten und nun in der amerikanischen Besatzungszone liegenden Kleinstadt in keiner Trümmerlandschaft auf. Ihre Eltern lebten gemeinsam mit Kunigunde Birle, der Großmutter mütterlicherseits, im eigenen Haus mit Garten und Terrasse.
Auch wenn die Welt, in die Petra hineingeboren wurde, sich gegenwärtig von den Schrecken, Zerstörungen und Grausamkeiten des Weltkrieges erholte, traten die ideologischen Unterschiede zwischen den zunächst vereinten Siegermächten zunehmend in den Vordergrund, womit der Kalte Krieg zwischen den entstandenen Machtblöcken, der den politischen Kontext in den kommenden Jahrzehnten prägen sollte, seinen Anfang nahm.
Petras Vater war ein sanfter, sympathischer und ein wenig verträumter Mann, dessen Lebensweg es womöglich an Zielstrebigkeit vermissen lässt. Er spielte Klavier, schrieb Gedichte und arbeitete zeitweilig als Reporter, doch schien er mit seiner Rolle als Ehemann und Vater überfordert zu sein und verließ die Familie, als Petra sechs Jahre alt war, Hals über Kopf und ohne eine Erklärung für diesen folgenschweren Entschluss zu hinterlassen. Petras langjähriger Freund, der Politiker und mehrjährige Fraktionsgeschäftsführer der grünen Bundestagsfraktion Lukas Beckmann glaubt zu wissen, dass Petra ihren Vater zeitlebens gesucht hat und dieser sich in den 1980-er Jahren postalisch, jedoch ohne einen Absender zu hinterlassen, bei ihr gemeldet hat. Getroffen hat sie ihn nie wieder und es erscheint naheliegend, Petras spätere Beziehungen als Suche nach dem verlorenen Vater zu interpretieren.
Der Familie versetzte der unvermittelte Verlust zunächst einen Schock und erforderte eine Anpassung der Lebensplanungen. Petras Mutter hatte ursprünglich beabsichtigt, ein Studium aufzunehmen, doch sah sie sich nun gezwungen, für den Familienunterhalt zu sorgen. Sie machte sich allmorgendlich mit dem Moped auf den Weg in das fünf Kilometer entfernt liegende Leipheim, wo sie in einem Geschäft, das sich an stationierte US-Militärs richtete, eine Anstellung als Verkäuferin gefunden hatte. Petras Oma kümmerte sich währenddessen hingebungsvoll um ihre Enkeltochter, wodurch eine Bindung entstand, die nie zerbrach und wohl die engste und emotionalste in Petras Leben war.
Als 40-Jährige verfasste sie eine an ihre Großmutter gerichtete „öffentliche Liebeserklärung“, in der sie zurückblickte: „[…] in diesen schweren Nachkriegsjahren, als sich meine Eltern scheiden ließen und sich meine Mutter ihr Leben zurechtzimmern musste, da wurden meine Omi und ich unzertrennlich. Ja, wir wurden sehr früh so etwas wie Freundinnen […] Omi war in diesen Jahren meine ganze Familie, meine wichtigste Verbündete […].“
Es lässt sich vermuten, dass die kleine Petra in der zum Freistaat Bayern gehörenden Kleinstadt, in der die Güntz in die Donau fließt, recht unbeschwert aufwuchs und auch ich erhoffe mir, in dieser beschaulichen Kleinstadt, die ich heute um die Mittagszeit mit dem Zug erreicht habe, angenehme Tage zu verbringen.
Günzburg, Bayern (CC BY 3.0 / Tilman2007 )
Weniger sorglos haben die Günzburger der Ankunft Napoleons entgegengeblickt, als am 9. Oktober 1805 bei eisiger Kälte und Schneeregen vor den Toren der Stadt eine stürmische Schlacht zwischen österreichischen und französischen Truppen tobte. Während sich die Bevölkerung verängstigt in ihren Häusern verbarrikadierte, setzte Napoleon seinen anhaltenden Siegeszug fort, weshalb der Stadt Günzburg die ungewollte Ehre zuteilwurde, im Pariser Triumphbogen in Stein verewigt zu werden.
Nicht nur aufgrund seines Eroberungszuges blieb Napoleon ein nicht gern gesehener Gast in der Stadt, denn er vergaß zudem, seine Zeche von etwa 450 Gulden zu bezahlen. Auf die offene Rechnung machte der damalige Oberbürgermeister 1989 den französischen Staatspräsidenten François Mitterrand aufmerksam, als dieser mit dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl die Stadt besuchte. Mitterrand beglich unter dem Applaus von 7.000 auf dem Marktplatz zusammengekommenen BürgerInnen spontan mit einer Goldmünze die bestehenden Schulden.
Von jenem Marktplatz aus schlendere ich durch einige enge, beschauliche Gässchen und erreiche nach etwa fünf Minuten den Hofgartenweg 6, wo ich auf das spitzgiebelige Haus, in dem einst Petra mit ihrer Mutter und Großmutter gelebt hat, blicke. Auch wenn es mittlerweile um ein Stockwerk erweitert worden ist, wirkt es im Vergleich zu der Bebauung in seiner Nachbarschaft noch immer bescheiden.
Petra Kellys Elternhaus
Aufgrund eines Nierenleidens entwickelte Petra sich zu einem körperlich geschwächten Kind. Kurz nachdem sie 1953 eingeschult wurde, erfolgte die erste Nierenoperation, der noch weitere folgen sollten. Ihre körperliche Schwäche kompensiert sie mit ihren intellektuellen Fähigkeiten. „Die kann das nicht. Die darf das nicht“, habe sie oft gehört. Das habe sie gekränkt, aber auch ihre Willenskraft gestärkt. Sie wollte, abgesehen vom Sportunterricht, von dem sie befreit war, in sämtlichen Fächern die Klassenbeste werden … und sie wurde es.
Ihre Heimatstadt kann indessen auf einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte der deutschen Fitnessbewegung zurückblicken, wie ich einer Plakette, die an der Fassade eines malerischen Hauses, vor dem rustikale Bierbänke weniger auf sportive Freizeitgestaltung hindeuten, entnehmen kann.
Der Arzt Dr. Josef Klimm (1791 – 1861) nahm während seiner Studienzeit in Berlin regelmäßigen an Turnstunden mit den von „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778 – 1853) entwickelten Geräten teil, wodurch sein Interesse an den Funktionen des menschlichen Bewegungsapparates geweckt wurde. In seiner Dissertation setzte er sich mit der muskulären Anspannung, die beim Training an einer waagrecht befestigten Turnstange hervorgerufen werden, auseinander. Benannt nach ihrem Erfinder kennen wir diese effektive Übung heute unter dem Namen „Klimmzug“. Im Hinterhaus des Anwesens in der Hofgasse 3, das heute eine Musikbar beherbergt, richtete der Mediziner ein mit Trainingsgeräten ausgestattetes „Medizynisches Institut zur Mobilitäts-Therapie“ ein, welches er bis zu seinem Tod erfolgreich betrieb.
Einstiges Institut von Josef Klimm
Die zierliche Petra erlangte ihre Form der Stärke mutmaßlich auch dank ihrer Oma, die sie als Vorbild geprägt hat und in der sie eine charakterfeste, unabhängige Frau erkannte, der es nicht an Mut zu gebotenem Ungehorsam fehlte. „Das Frauenbild, mit dem ich aufwuchs, wurde von Frauen geprägt, die sich durchkämpften, die ihre Ellenbogen benutzten und ihre eigenen Wertvorstellungen hatten“, erläuterte Petra Kelly 1988 in einem Interview.
Ab 1958 besuchte sie das katholische Mädchengymnasium, das „Institut der Englischen Fräulein“, wo sie sogleich durch ihren Fleiß und Lernwillen auffiel und wo sie, wie sie später realisierte, die enorme Härte gegen sich selbst gelernt habe. Ihr erster Berufswunsch kristallisierte sich heraus. Sie wollte Nonne werden – jedoch „eine weltliche Nonne in der Dritten Welt“, keine die „im Kloster sitzt und Gitarre spielt.“ Auch wenn sich ihr Lebensweg anders gestaltete und sie sich schon bald von der Amtskirche abwendete, kann doch konstatiert werden, dass ihr politisches Denken in der christlichen Nächstenliebe wurzelte. Solidarität und Mitgefühl mit den Schwachen blieb zeitlebens Petra Kellys wesentliche Antriebsfeder.
Sie musste, wie ich soeben nachvollziehen konnte, lediglich ein paar enge Gassen durchqueren und den Marktplatz passieren, um nach wenigen Gehminuten die Gebäude des einstigen Franziskanerinnenklosters zu erreichen, das 1825 von der Oberin des Englischen Instituts als Schulhaus ersteigert wurde. Bis 2017 hatte das Mädchengymnasium, das Petra Kelly besuchte, Bestand. Heute drücken hinter den weiß gestrichenen Mauern Mädchen und Jungen gemeinsam die Schulbank.
Petra Kellys einstige Schule
Petra Kelly blickte mit gemischten Gefühlen auf ihre Schulzeit zurück. „Und wenn einen eines zur Feministin machte, dann der Aufenthalt in einer bayerischen Klosterschule, wo man gezwungen wird, die rechten Ideale des Papstes und seiner Konzeption der Jungfrau Maria zu übernehmen. Entweder akzeptiert man dieses Konzept, oder man wird verrückt, paranoid und muss sich auf eine starke Ablehnung einstellen. Ich verließ die katholische Kirche mit einem Brief an den Papst, als ich 16 Jahre alt war.“
Im Jahr ihres Wechsels an das konfessionelle Gymnasium heiratet Petras Mutter den in Deutschland stationierten amerikanischen Captain John E. Kelly, den sie an ihrem Arbeitsplatz kennengelernt hatte. Der hochgewachsene Mann wird als sehr sanft beschrieben und bildete mit seiner Ruhe und Ausgeglichenheit den Gegenpol zu seiner aktiven, oft hektischen Ehefrau. Infolge der Hochzeit änderte sich Petras Familienname in Kelly. Schon bald wuchs die Familie, als 1959 Petras Schwester Grace Patricia geboren wurde.
Nach seiner Militärzeit in Japan wurde John Kelly zunächst in Würzburg stationiert und nach der Hochzeit mit Marianne Birle nach Nellingen, einer kleinen, etwa 40 Kilometer von Günzburg entfernten Gemeinde, verlegt. Günzburg liegt im sogenannten „Schwäbischen Barockwinkel“, eine Region, die von zahlreichen Barockkirchen geprägt wird, von denen die Günzburger Frauenkirche, die unmittelbar an das von Petra Kelly besuchte Gymnasium grenzt, als einer der bedeutendsten Kirchenbauten gilt.
Günzburger Frauenkirche
Nach der Gründung des Franziskanerinnenklosters im 15. Jahrhundert wurde eine bestehende Kapelle zu einer Kirche im gotischen Stil umgebaut und mittels eines bis heute bestehenden Ganges mit dem Kloster verbunden. 1735 wurde das Gotteshaus bei einem Brand bis auf den unteren Teil des Turmes zerstört, woraufhin sich die Stadt zu einem Neubau entschloss, der 1780 vollendet wurde.
Verbindung zwischen Kloster und Kirche
Ich betrete die Kirche und bin überrascht angesichts dessen, was ich dort vorfinde, in diesem beschaulichen Umfeld nicht erwartet hätte und als befremdlich überladen empfinde. Ich betrachte einen üppig ausgeschmückten, im Rokokostil gestalteten Innenraum, den prächtigen, erhöhten Chor sowie hohe Sockel, auf denen reichlich verzierte Säulen in die Höhe zu einem Spiegelgewölbe, das den Raum überspannt, ragen.
Günzburger Frauenkirche
Dort fällt mein verblüffter Blick auf ein an die Decke gemaltes Krokodil, das ich in einer Kirche nicht unbedingt vermutet hätte. Bei genauerer Betrachtung kann ich vier, jeweils neben Brunnenschalen angeordnete, Figurengruppen ausmachen. Die Darstellungen verdanken wir dem Maler Anton Enderle, der hier die seinerzeit bekannten vier Erdteile veranschaulicht hat. Ich erkenne Europa, das durch eine bekrönte Frau, einen Soldaten sowie ein weißes Pferd symbolisiert wird. Für Asien stehen eine weihrauchspendende Frau, ein Kamel und ein orientalisch gekleideter Mann. Afrika wird mithilfe einer dunkelhäutigen Frau sowie eines Elefanten versinnbildlicht, während Amerika durch eine federbekrönte Frau und das besagte Krokodil vertreten wird. Ich vermute, dass die grünen Reptilien dem Künstler nicht aus eigener Anschauung bekannt waren, denn das Tier wirkt auf mich recht possierlich und ähnelt einer Kreuzung aus Krokodil und Ente.
Deckengemälde
Petra Kelly sollte schon bald den für die allermeisten Europäer lediglich aus Kinofilmen bekannten Kontinent in Augenschein nehmen und dort heimisch werden, denn als John Kelly in die USA versetzt wurde, begleitete ihn die Familie in das ferne Land. Zunächst erreichten sie New York City, wo die zwölfjährige Petra erstmals in schwarze Gesichter blickte und in den Slums von Harlem eine ihr bislang unbekannte Armut wahrnahm. Was sie sah, war eine gänzlich andere Welt als das gemütliche Günzburg. Das sollte das „gelobte Land“ sein? Petra war verwirrt. „Die Umstellung von der altvertrauten Kleinstadt Günzburg auf das neue abenteuerliche Land war sehr groß. Die amerikanische Utopie, die ich mir immer durch Kinos oder Bücher in Europa vorstellte, wurde eine andere Wahrheit. Amerika wurde für mich ein kompliziertes Land.“
Ihr fiel der Wegzug aus Deutschland sehr schwer. Vor allem die dauerhafte Trennung von der geliebten Oma, die ihr Haus in Günzburg verkaufte und nach Nürnberg zog, belastete Petra, die kein Englisch sprach, was das Einleben zusätzlich erschwerte.
Die Kellys erwarben ein Haus in der damals etwa 120.000 Einwohner umfassenden Stadt Columbus im US-Bundesstaat Georgia. Das Umland der neuen Heimat war ländlich geprägt, weshalb sich Petra bald recht wohlfühlte, denn im Gegensatz zu New York ähnelte diese Region eher der schwäbischen Heimat – nur erschien alles monumentaler.
Beide Orte hatten gemeinsam, dass jenseits der Stadtgrenze die Landschaft sogleich von ausgedehnten Weideflächen geprägt war, woran bis heute ein Wahrzeichen der Stadt Günzburg, das ich bereits bei meiner gestrigen Ankunft durchschritten habe, erinnert. Der im 17. Jahrhundert errichtet Kuhturm trägt seinen Namen, da einst allmorgendlich das Vieh durch dieses Tor zu den außerhalb der Stadtmauern gelegenen Feldern und Wiesen getrieben wurde.
Kuhturm
Der „Kuhturm“ ähnelt architektonisch und mit seiner weiß-grauen Farbgebung dem „unteren Tor“, das den Günzburger Marktplatz malerisch abschließt. Die beiden eleganten grünen Dächer erinnern daran, dass wohlhabende Städte es sich in früheren Zeiten gerne leisteten, öffentliche Gebäude mit Kupferblech zu decken, sodass Ankömmlinge bereits aus der Ferne Rückschlüsse auf den Reichtum des Ortes ziehen konnten. In Günzburg wurde beabsichtigt, zumindest den Anschein von Wohlstand zu erwecken, weshalb die Dachziegel grün glasiert wurden.
Unteres Tor
Petra Kelly war es gewohnt, die Beste zu sein und das sollte sich auch in den USA nicht ändern. Sie lernt im Nu die Sprache, bis sie diese nicht nur perfekt beherrschte, sondern ihre Ausdrucksweise schlicht brillant war, wurde Herausgeberin des Schuljahrbuchs, gewann einen Redewettbewerb und moderiert als 15-jährige eine Radiosendung zu politischen Themen, wobei sie sich insbesondere für soziale Belange und Menschenrechtsfragen interessierte. Sie wirkte bereits sehr erwachsen und es scheint fast, als wäre sie nie eine Jugendliche, mit all den Neigungen, Wünschen und Erfahrungen, die diese Zeit prägen, gewesen.
Columbus liegt in der Nähe von Atlanta, wo der Baptistenpastor Martin Luther King geboren wurde und Montgomery, wo dieser sich an die Spitze der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung gesetzt hatte, nachdem die farbige Rosa Parks sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz im Bus, wie es das bestehende Gesetz vorsah, für einen weißen Fahrgast zu räumen. Mit dieser Tat löste sie im Dezember 1955 eine nachhaltige politische Bewegung aus. Unter der Führung von Martin Luther King kam es in der Folge ihres Widerstandes zu Busboykotten, Demonstrationen sowie weiteren symbolischen Aktionen des zivilen Ungehorsams, mit deren Hilfe die Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht wurde. Auch wenn Petra Kelly erst wenige Jahre später eintraf, waren diese Vorgänge noch in aller Munde und prägten ihre Vorstellungen von aktiver Gestaltung des politisch-gesellschaftlichen Geschehens nachhaltig.
Rosa Parks mit Dr. Martin Luther King jr. (ca. 1955) / Public Domain
Aus heutiger Sicht absurde Grenzen bestanden einst auch am Günzburg Stadttor, an dem, wollte jemand dieses mit einem Pferdewagen passieren, Gebühren verlangt wurden. Dieser Anspruch wurde aus der Tatsache abgeleitet, dass der dahinterliegende Marktplatz die einzige gepflasterte Straße der Stadt war und beim Bau sowie beim erforderlichen Unterhalt Kosten verursachte. Die Stadt leitete daher ihr Recht ab, für das Befahren des Platzes einen sogenannten Pflasterzoll zu erheben. Ich stehe vor einem blau gestrichenen Haus unmittelbar vor dem Stadttor, das heute ein Fachgeschäft für Faschingsartikel beherbergt und einst die Wohn- und Arbeitsstätte des hiesigen Zolleintreibers war. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie dieser unter dem von vier Holzsäulen getragenen Vorbau stand, die Größe des eingetroffenen Wagens und die Anzahl der Zugtiere ermittelte und daraus die Höhe der zu zahlenden Gebühr errechnete, die der Fuhrmann zu begleichen hatte, bevor er seine Waren durch das Stadttor befördern durfte.
einstiges Zollhaus
Als Kelly 16 Jahre alt war, starb einer ihren Helden, als am 22. November 1963 der amtierende, von ihr verehrte Präsident John F. Kennedy auf einer Wahlkampfreise in Dallas während einer Fahrt im offenen Wagen erschossen wurde. Wie die gesamte Nation stand auch Kelly unter Schock, verband sie doch mit dem vergleichsweise jungen und charismatischen Präsidenten die Hoffnung auf eine gerechtere und friedlichere Zukunft.
John F. Kennedy / Public Domain
Nach dem Attentat rückte Lyndon B. Johnson, während dessen Amtszeit der Krieg in Vietnam eskalierte, in das Präsidentenamt auf. 1952 hatte Präsident Harry S. Truman die Domino-Theorie, wonach der Kommunismus unweigerlich nach Weltherrschaft strebe und folglich ein kommunistisches Regime eine Kettenreaktion in seinen Nachbarstaaten hervorrufen würde, die in letzter Konsequenz auch die USA bedrohe, vertreten. Basierend auf diese Theorie hatte Präsident Dwight D. Eisenhower erstmals Kampfflugzeuge und US-Soldaten nach Südvietnam gesendet, um den dortigen Kampf gegen die Vietminh, die unter ihrem politischen Führer und Gründer Hồ Chí Minh die Unabhängigkeit Vietnams sichern wollte, zu unterstützen. Dessen Nachfolger John F. Kennedy veranlasste mehrere verdeckte Militäroperationen und erhöhte die Zahl der US-Militärberater in Südvietnam drastisch, bevor Lyndon B. Johnson erste Luftschläge auf Hanoi, die er als „Vergeltung für wiederholte nicht provozierte Gewaltakte“ darstellte, anordnete.
In diesen angespannten Zeiten machte Petra Kelly ihren Schulabschluss als beste Schülerin ihres Jahrganges und begann anschließend ein Studium der politischen Wissenschaften und Weltpolitik an der American University in Washington, mit dem Ziel Diplomatin zu werden.
Sollte Petra Kelly tatschlich der beachtliche Sprung vom beschaulichen, für den Autoverkehr gesperrten Marktplatz in ihrer schwäbischer Geburtsstadt Günzburg hin zur internationalen Politik gelingen?
Das Herz der gemütlichen Stadt ist seit Jahrhunderten der zentrale Treffpunkt für Besucher sowie Einheimische. Bereits seit 1397 findet hier wöchentlich einer der ältesten Wochenmärkte der Region statt und später führte die Postroute Wien – Paris unmittelbar über den Günzburger Marktplatz, der heute mit seinen Restaurants und Cafés zum Verweilen einlädt.
Günzburger Marktplatz
Seit 1984 wird das hübsche Stadtzentrum von einem Brunnen des Bildhauers Jan Bormann, an dem ich zahlreiche stadtgeschichtliche Details erkennen kann und den ich bis in die späten Abendstunden in meinem nahegelegenen Hotelzimmer gemütlich plätschern höre, bereichert. Am Rande des Beckens erkenne ich eine römische Münze, ein Medaillon mit den markanten Türmen der Stadt, das Wappen Günzburgs, den österreichischen Doppeladler sowie das Bayerische Staatswappen. Die Flussgottheit Guntia, die Namenspatronin der Stadt, liegt ausgestreckt in dem achteckigen Wasserbecken und speit einen Wasserstrahl hinunter auf das Kopfsteinpflaster.
Günzburger Stadtbrunnen
Kurz nach Aufnahme ihres Studiums schrieb Petra Kelly einen Brief an eine Freundin, in dem ihre Neigung, sich selbst zu überfordern, deutlich wird. „Ich habe versucht, alle meine Fähigkeiten zu entwickeln und immer nach dem Höchsten zu streben. Was ich erreichen wollte, habe ich bekommen. Ich bezahle mit meiner Gesundheit. Es ist, als ob ich verrückt wäre, aber ich werde von meinem Herzen zu immer mehr und besserem getrieben.“
Zu jener Zeit ereilte die Familie Kelly eine niederschmetternde Nachricht, als bei der kleinen Grace ein Tumor im rechten Auge, das daraufhin entfernt werden musste, entdeckt wurde. Es folgte eine Bestrahlungstherapie, wobei die Eltern die Behandlungsmöglichkeiten in Deutschland als vielversprechender einschätzten und mit Grace nach Würzburg zogen.
Für Petra bedeutete dies eine erneute Trennung, die ihr sehr schwerfiel, denn sie war vernarrt in ihre kleine Schwester und telefonierte von nun an sehr häufig mit Grace, um die innige Beziehung auch über die große Entfernung zu pflegen.
In ihrer Geburtsstadt fällt mein überraschter Blick am Rande des Marktplatzes auf einen eigentümlich behauenen Stein inmitten des Kopfsteinpflasters, der auf eine wenig freundschaftliche Verbindung anspielt. Diese liegt in der fernen Vergangenheit der Stadt begründet. 1301 gelangte Günzburg in den Besitz des Hauses Habsburg, welches schon bald darauf die im Mündungstal der Günz liegende „Unterstadt“ um eine planmäßig errichtete „Oberstadt“, welche infolge der Verlegung des Marktes an seinen heutigen Standort die ursprüngliche Stadt wirtschaftlich rasch überflügelte, erweitern ließ.
Ich betrachte das eigentümliche Objekt vor meinen Füßen und erkenne mit ein wenig Fantasie die Formen eines menschlichen Hinterteils. Die BewohnerInnen der unteren Stadt fühlten sich angesichts des Aufschwungs der oberen Stadt stets benachteiligt und hegten stillen Groll. Bei der Neugestaltung des Marktplatzes erinnerte sich ein Steinmetz an die althergebrachte Rivalität und ersann einen Scherz. Zur Eröffnung des Platzes hatte er aus „Rache“ für die jahrhundertelange Geringschätzung den „Gruß des Götz von Berlichingen an die Oberstadt“ im Straßenpflaster verlegt.
„Günzburger Fidla“
Ähnlich wie der besagte Steinmetz besaß auch Petra Kelly eine bemerkenswerte Unerschrockenheit, mit der sie bereits als junge Frau unmittelbar an prominente Politiker herantrat. 1967 verfasste sie einen rührenden Bittbrief an den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. Sie wolle ihre krebskranke Schwester zu Weihnachten besuchen, könne die Reise aber nicht finanzieren und benötige Unterstützung. Tatsächlich erklärte sich in der Folge die Caritas bereit für das Vorhaben aufzukommen, wobei es Petra Kelly wichtig war, zumindest einen kleinen Anteil selbst zu bezahlen und möglichst günstige Tickets zu nutzen.
Doch nicht nur durch ihre Schwester blieb Kellys Verbindung zu Deutschland bestehen. 1968 formulierte sie in einem Brief: „Ich lebe nun in zwei Welten – Deutschland hat mir meine Prinzipien, meine Philosophie gegeben und meine Ansichten geformt. Dort sah ich die ersten Probleme. Außerdem blieben starke Eindrücke: Donner, Sonnenschein, unvergessliche Menschen und Erinnerungen, die mich später durchs Leben führen können.“
Petra Kelly wurde in zwei unterschiedlichen Staaten geprägt und wie sich zeigen sollte, entschied sie sich, obwohl ihr von amerikanischen FreundInnen nachgesagt wurde, amerikanischer als jede andere Amerikanerin zu sein, bewusst gegen die US-Staatsbürgerschaft. Stattdessen zog es sie später zurück in ihr Geburtsland, an das sie so lebhafte Erinnerungen hatte, wie an die engen Gassen in Günzburg, durch die sie allmorgendlich zur Schule gelaufen war.
Diese seien nicht derart schmal, dass die Hunde mit dem Schwanz von oben nach unten wedeln müssen, behaupten die Günzburger augenzwinkernd. Aber im „Radwinkel“, der kleinsten Gasse der Stadt, durch die ich eben spaziert bin und durch die auch die kleine Petra möglicherweise auf ihrem Schulweg gesaust ist, geht es schon beachtlich eng zu.
Radwinkel
Denkbar wäre auch, dass sie das „Frauengässchen“ als Schulweg gewählt hat, das ich soeben passiere. Ich blicke auf die sanierten, teils weinberankten Häuser, die in unmittelbarer Nähe zum Marktplatz liegen, wodurch dieses Quartier heute zu den schönsten Wohnlagen Günzburgs zählt. Das war zur Zeit ihrer Errichtung gänzlich anders, denn ohne Wasserleitung, Kanalisation, elektrisches Licht und angemessene Heizmöglichkeit boten die Gebäude sicherlich kein behagliches Heim. Es waren die wenig wohlhabenden BürgerInnen, die hier einst aus Kostengründen ihre Häuser auf kleinen Grundstücken unmittelbar an der Stadtmauer, die somit als vierte Wand diente, errichtet haben. Um etwas mehr Gesamtwohnfläche zu erlangen, ließen sie die Fassaden in den oberen Stockwerken um eine Balkenbreite vorspringen, was ich auch heute noch gut erkennen kann, während ich die gemütlich wirkende Gasse entlangspaziere.
Frauengässchen
Ein eher von Unruhe getriebenes Leben führte Petra Kelly, die nicht nur fleißig und gewohnt engagiert studierte, sondern sich zudem in zahlreiche Aktivitäten stürzte, kulturelle und politische Veranstaltungen an der Universität organisierte und in ihrem ersten Studienjahr sogleich für den Studentenrat kandidierte. Mit dem Slogan „Vote for a strong woman” zog sie in den Wahlkampf und ließ sich im Minikleid auf einem Motorrad sitzend fotografieren. Die erfolgsverwöhnte Petra Kelly wurde mit großer Mehrheit gewählt.
Sie erregte derart Aufsehen, dass sie sogar zu einer TV-Talkshow mit dem amtierenden Vizepräsidenten und kommenden Präsidentschaftskandidaten der USA, Hubert Humphrey, eingeladen wurde, wo sie das militärische US-Engagement in Vietnam massiv kritisierte, was zu jener Zeit noch nicht dem herrschenden Zeitgeist und der verbreiteten Stimmung unter jungen Menschen entsprach. Trotz seiner nicht gänzlich übereinstimmenden Meinung war Humphrey derart beeindruckt von der jungen Frau, dass er einen langjährigen freundschaftlichen Briefwechsel mit ihr pflegte.
Als sich der Gesundheitszustand von Grace verschlechterte, erreichte Kelly durch ihre Korrespondenz, die später von BeobachterInnen als „letter power“ bezeichnet wurde, erneut Erstaunliches. Sie wendete sich unmittelbar an den Vatikan und ermöglichte ihrer kleinen, nach Zuspruch sehnenden Schwester eine Audienz beim Papst Paul VI.
Trost und Schutz suchte Ende des 15. Jahrhunderts auch die aus Ulm vertriebene jüdische Gemeinde und fand beides im nahe gelegenen Günzburg, wo sie eines der bedeutendsten Zentren des süddeutschen Judentums gründete. Ihr Wohnviertel befand sich am Rande der Altstadt in der heutigen Münzgasse, an deren aneinandergereihten Häusern, die sich dem Verlauf der einstigen Stadtmauer angepasst haben, ich entlangspaziere. Ich bin begeistert von der atmosphärischen, schmalen Altstadtgasse, die sich bis heute ihren mittelalterlichen Charme bewahrt hat.
Münzgasse
Nachdem die jüdische Gemeinde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Ihre Blütezeit erlebt hatte, erfolgte auch in Günzburg 1617 die Anordnung, dass sämtliche Juden ihre Wohnorte und die Stadt zu verlassen haben. Der Name Judengasse hatte für die enge Passage noch bis in das 18. Jahrhundert bestand, bevor sie nach der Errichtung der nahegelegenen Münzstätte im Jahr 1763 ihren jetzigen Namen „Münzgasse“ erhielt. Somit war eine der letzten Erinnerungen an die vor Jahrhunderten bedeutende jüdische Gemeinde getilgt.
Die östliche Hälfte der Gasse trägt aufgrund des im südöstlichen Eckturm der Stadtbefestigung untergebrachten Gefängnisses den Namen Eisenhausgasse. Ich blicke an dem tristen viergeschossigen Walmdachbau empor, dessen Nutzung, nachdem er zuvor als Pulvermagazin verwendet wurde, im 18. Jahrhundert zu einem staatlichen Gefängnis umfunktioniert wurde. Da die Delinquenten hier „in Eisen gelegt“ wurden, bürgerte sich in der Bevölkerung die Bezeichnung „Eisenhaus“ ein. Die herrschenden unmenschlichen Zustände in dem Zuchthaus führten zu einer Zeit, in der sicherlich kein zimperlicher Umgang mit Gefangenen gebräuchlich war, zu mehrfachen Beschwerden, weshalb 1859 ein neues Gefängnis errichtet wurde und das Gebäude mit seiner für diesen Zweck ungünstigen Fensteranordnung seitdem als Wohnhaus genutzt wird.
Eisenhaus
Am 17. Februar 1970 erlag Grace Kelly im Alter von zehn Jahren ihrem Krebsleiden. Für die untröstliche Petra war mit diesem Tag nichts mehr wie zuvor. Mehr als drei Jahre lang hatte sie hilflos die medizinische Behandlung zumindest aus der Ferne begleitet und es deutete für sie vieles darauf hin, dass die erfolgte Strahlentherapie den Zustand ihrer Schwester stetig verschlimmert hat. Auch fragte sie sich, ob die Militärzeit des Vaters John Kelly in Japan etwas mit Graces Erkrankung zu tun haben könnte. All diese Zweifel sensibilisierten Petra Kelly für das Thema Atomkraft und Radioaktivität und ließen sie zeit ihres Lebens zu einer kompromisslosen Gegnerin jeglicher atomaren Nutzung werden.
Zwischenzeitlich war ausgehend von der renommierten Berkeley Universität in Kalifornien, die zur „Speerspitze“ der Studentenbewegung in den Vereinigten Staaten avancierte, ein immenser Proteststurm über das Land hereingebrochen. Nachdem der radikale Bürgerrechtler Malcolm X auf dem Campus Redeverbot erhielt und es in der Folge sämtlichen Studentengruppen verboten wurde, auf dem Gelände der Universität politisch Stellung zu beziehen, stießen diese Anordnungen auf den massiven Widerstand der Studierendenschaft. In stetig größer werdenden Demonstrationen trat diese für Redefreiheit ein und protestierte gegen den Krieg in Vietnam. Diese Bewegung sprach Petra aus dem Herzen, war sie doch wie die Studierenden erfüllt von einer glühenden Ungeduld, die die Welt zu einem gerechteren Ort umformen wollte – ja gar musste.
Sie setzte sich zu jener Zeit intensiv mit den Schriften von Henry David Thoreau (1817 – 1862) auseinander, dessen Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ von 1849, in dem er forderte, sich den staatlichen Gesetzen nur zu beugen, wenn diese mit den persönlichen moralischen Grundsätzen übereinstimmen, sie beeindruckte. Die dort formulierten Gedanken hatten bereits ihren Vorbildern Mahatma Gandhi und Martin Luther King als Inspiration für deren gewaltfreien Widerstand gegen die Obrigkeit gedient.
Derartige Vorstellung herrschten bei den im – nach seinem Baumeister Joseph Dossenberger benannten – Dossenbergerhaus stationierten Soldaten sicherlich nicht. Den Ansturm der übermächtigen französischen Truppen im Oktober 1805 konnten sie lediglich einen Nachmittag lang erfolgreich Widerstand leisten, weshalb Günzburg nach mehr als 500-jähriger Zugehörigkeit zum Haus Habsburg unter bayerische Herrschaft fiel.
Dossenbergerhaus
Ich betrete den Ruhe ausstrahlenden Innenhof der einstigen Kaserne, wo ich auf ein Mahnmal, das an einen weiteren prominenten gebürtigen Günzburger erinnert, treffe. Der Massenmörder und berüchtigte Lagerarzt des Konzentrationslagers Auschwitz Josef Mengele ist ebenfalls in dieser beschaulichen Kleinstadt zur Welt gekommen. Das 2005 enthüllte Mahnmal besteht aus etwa 70 um eine Texttafel herum angeordneten Augen, die von SchülerInnen des Dossenberger-Gymnasiums sowie des Maria-Ward-Gymnasiums aus Ton modelliert wurden.
Mengele-Mahnmal
Petra Kelly, die einstige Schülerin der letztgenannten Schule, lernte auf einem Empfang den Senator Robert Kennedy kennen und war von dessen einnehmende Ausstrahlung derart begeistert, dass sie sich entschloss, den Bruder des getöteten US-Präsidenten bei dessen Präsidentschaftswahlkampf als Wahlkampfhelferin zu unterstützen.
Kellys Wille, in die Welt der Politik einzutreten, wurde verstärkt durch ein tragisches Ereignis und dessen Folgen. Am 4. April 1968 wurde Martin Luther King auf dem Balkon eines Motels erschossen, woraufhin es noch am gleichen Abend im ganzen Land zu Aufständen kam. Insbesondere Washington wurde von schweren Unruhen erschüttert. Petra Kelly war als Sympathisantin der Bürgerrechtsbewegung von der Ermordung Kings tief erschüttert, aber aufgrund der Ausschreitungen in der Nähe ihrer Wohnung beunruhigt und nahm die Einladung einer Freundin, bei ihr zu übernachten, dankbar an. Diese war die Tochter von Walt Rostow, einem hohen Diplomaten, der als Sicherheitsberater für die US-Regierung tätig war. Nach eigener Aussage sollte dieser Abend Petra Kelly nachhaltig prägen. Sie hörte zufällig ein Telefongespräch, das Rostow mit dem Präsidenten Lyndon B. Johnson führte, bei dem die beiden im entspannten Plauderton beschlossen, welche vietnamesischen Städte am kommenden Tag bombardiert werden sollten. Petra Kelly war empört, paralysiert und fühlte sich ohnmächtig. Sie wusste, dass am kommenden Tag in Vietnam Menschen sterben würden und konnte ihnen trotz ihres Wissens nicht helfen … sie nicht einmal warnen. Nie wieder wollte sie solch ein Gefühl der Hilflosigkeit erleben!
Doch bevor sie aktiv in das politische Geschehen eingreifen konnte, musste sie ihr Studium beenden. Wie gewohnt arbeitete sie hart, sammelte eifrig Leistungsmedaillen und machte ihren Abschluss mit der Auszeichnung „B.A. cum laude“.
Ich habe in ihrer Geburtsstadt mittlerweile den beschaulichen, in Teilen von geschmackvoll restaurierten Fachwerkhäusern umgebenen Wätteplatz erreicht. Hier plätscherte einst der Stadtbach durch die engen Gassen, woran heute ein Brunnen, aus dem beständig Wasser in ein flaches Granitbecken fließt, erinnert. Unmittelbar daneben erblicke ich eine schmucklose Bank, auf der ich für einen Moment Platz nehme und mir vorzustellen versuche, wie an diesem Ort der damalige Wasserlauf vor Jahrhunderten zu einem kleinen Teich aufgestaut wurde. Weil das Wasser derart seicht war, dass man darin ‚waten‘ konnte, nannten die BürgerInnen den Platz bald die „Wätte“ und so heißt er bis zum heutigen Tage. Da die Menschen sich angewöhnten, vor Ort ihre Pferde zu waschen, roch das Gewässer schon bald sehr unangenehm und wurde aus hygienischen Gründen 1792 zugeschüttet. Bald darauf wurde hier wöchentlich ein Ferkelmarkt abgehalten, der bis in die 1960er-Jahre an jedem Dienstag stattfand. Als der Platz in den 1990er-Jahren neugestaltet wurde, sollte an diese Tradition erinnern werden, sodass ich heute auf die Bronzestatur eines Schweinehändlers blicke.
Wätteplatz
Während Petra Kelly im nationalen und internationalen Rahmen noch abwarten musste, ihren ersehnten Einfluss geltend zu machen, gelang ihr dieses im persönlichen Umfeld bereits jetzt. Als ihr Stiefvater John Kelly nach Vietnam versetzt werden sollte, wandte sich Petra ohne dessen Wissen unmittelbar an das Pentagon, befeuerte dieses mit Briefen, in denen sie verdeutlichte, dass ihr Stiefvater aufgrund der familiären Situation unabkömmlich sei, bis sie ihr Ziel erreicht hatte und John Kelly aus „humanitären Gründen“ von der drohenden Versetzung verschont blieb.
Diese Fähigkeit, scheinbar unerreichbare Autoritäten für sich einzunehmen, verhalf ihr 1969 zu einem ganzseitigen Artikel in der Washington Post, der mit den Sätzen begann: „Sie hat Robert Kennedy dazu gebracht, sich um ihr Stipendium zu kümmern, Hubert Humphrey, um sich zusammen mit Richard Nixon um ihre Aufenthaltsgenehmigung zu kümmern. Gegenüber Papst Paul setzte sie sich durch und schaffte es auch für sich und ihre Kommilitonen fünf Stühle zu reservieren, als der Kardinal vor Bürgermeistern in den USA ein Statement abgab. Die russische Botschaft gab ihr Kaviar – sonst nicht zu bekommen. Sie ist Petra Kelly, 21 Jahre alt, eine deutsche Studentin an der AU. Ihr Studium ist Internationale Beziehungen. Sie macht und sie denkt.“
Wer oder was sollte diese erfolgreiche, intelligente, attraktive und willensstarke Frau aufhalten?