Unterwegs… in Berlin (Pariser Platz)

Max Liebermann – Teil 2: „Unverbesserlicher Anarchist“ und „heimlicher Kaiser“
„Ich bin in meinen Lebensgewohnheiten der vollkommene Bourgeois;
ich esse, trinke, schlafe, gehe spazieren
und arbeite mit der Regelmäßigkeit einer Turmuhr“(Max Liebermann)

Ich stehe auf dem geschichtsträchtigen Pariser Platz auf der Ostseite des Brandenburger Tores. Bei sommerlicher Wärme, wobei sanfte Windböen, die aus Richtung des Boulevards „Unter den Linden“ durch das Brandenburger Tor hinüber nach Charlottenburg wehen, für gelegentliche Abkühlung sorgen, reiben sich Passanten unterhalb der schützenden Schirmmützen den Schweiß von der Stirn und Eltern bemühen sich ihre quengelnden Kinder, mit denen sie einen Wochenendausflug in die Hauptstadt unternommen haben, mit der Aussicht auf ein Eis bei Laune zu halten. Auf dem Gehweg unmittelbar vor einem rechteckigen Schmuckbeet, in dessen Zentrum eine Wasserfontäne sprudelt, hat ein Lehrer seine jugendlichen Schüler um sich versammelt, um ihnen die historische Bedeutung dieses Ortes zu vergegenwärtigen.
Hinter dem mit Absperrgittern abgeriegelten Beet erstrahlt die helle Fassade eines Gebäudes, über dessen Eingang die Flaggen von Europa und Frankreich schlaff am jeweiligen Fahnenmast herunterhängen. Die Botschaft Frankreichs weist eine ihrer Umgebung angepasste Bauhöhe sowie den hier vorherrschenden betonten Sockel auf, denn seit 1994 gilt am Pariser Platz eine Gestaltungssatzung, mit der sichergestellt werden soll, dass historische Elemente und moderne Bauten zu einer stimmigen Einheit verschmelzen. Das Konzept, das eine Traufhöhe von maximal 22 Metern vorschreibt, sowie die Auflage enthält, für neuen Gebäude ausschließlich stehende Fenster zu verwenden und allenfalls 50 Prozent der Fassadenfläche in Glas auszuführen, geht auf den Architekten Josef Paul Kleihues (1933 – 2004) zurück, der auch für den Wiederaufbau des Liebermann-Hauses unmittelbar neben dem Brandenburger Tor verantwortlich zeichnete.
Max Liebermann hat den überwiegenden Teil seiner Kindheit und Jugend in diesem Haus, das sein Vater 1857 erworben hatte, verbracht. Als 21-Jähriger verließ er sein Elternhaus, um in Weimar Kunst zu studieren. Die folgenden Wanderjahre symbolisieren seinen mühsamen künstlerischer Weg. Er lebte in Weimar, Paris und München und verbrachte viel Zeit in dem von ihm geliebten Nachbarland Holland. Anfang der 1880 Jahre hatte er endlich sein langersehntes Ziel erreicht. Die internationale Kunstkritik nahm Notiz von ihm und er erntete vor allem in Frankreich verdiente Anerkennung, wohingegen der Erfolg in seiner deutschen Heimat nach wie vor auf sich warten ließ.

Max Liebermann, 1882 / © gemeinfrei-public domain
Während eines Besuches seiner Eltern in Berlin bandelte Liebermann mit Martha Marckwald, der Schwester seiner Schwägerin, an und entschloss sich, in seine künstlerisch vergleichsweise konservative Heimatstadt Berlin zurückzukehren, obwohl ihm sicherlich bewusst war, dort auf unvermeidbare Konflikte zu stoßen.
Ich blicke mich auf dem Pariser Platz, der im Jahr 1734 angelegt wurde und anfangs von vornehmen Stadthäusern für den Adel gesäumt wurde, um. Gemäß seiner geometrischen Form hieß er zunächst schlicht „Viereck“, bzw. französisch „carré“, und erhielt erst 1814, anlässlich der Eroberung von Paris durch preußische Truppen, seinen heutigen Namen.

Einzug Napoleons an der Spitze seiner Truppen am 27. Oktober 1806 / © gemeinfrei-public domain
Weniger als einen Kilometer von hier bezog Max Liebermann unter der heute nicht mehr existierenden Adresse „In den Zelten 11“, am nördlichen Rand des Tiergartens, 1884 die erste gemeinsame Wohnung mit seiner Gattin Martha, die er im gleichen Jahr geheiratet hatte. Nach jahrelangen Wanderjahren schien er sein zu Hause gefunden zu haben.
Die gemeinsame Hochzeitsreise führte das frisch vermählte Paar nicht wie damals in der wohlhabenden Gesellschaft üblich nach Italien, sondern nach Scheveningen, Delden, Haarlem und Amsterdam in Holland, wo Liebermann zahlreiche Studien anfertigte und Ideen für zukünftige Arbeiten sammelte.
Schon bald nach seiner Rückkehr wurde er in den renommierten Verein Berliner Künstler aufgenommen, was selbst von dem konservativen Anton von Werner (1843 – 1915), bekannt für seine Historienbilder sowie seine Ablehnung Moderner Kunst, befürworte wurde. Liebermann erntete, zu seiner großen Zufriedenheit, endlich auch in seiner Heimatstadt Anerkennung. Fachkundige Betrachter seiner Kunst rückten ihn aufgrund seiner häufigen Darstellung bescheidender, arbeitender Menschen in die Nähe der Sozialdemokratie und erklärten ihn zum „Anwalt der niederen Klassen“, was Liebermann, der nicht zu öffentlichen Bekenntnissen neigte, kommentarlos hinnahm, wenngleich ihn persönlich die Maltechnik stets mehr interessierte als das gewählte Motiv.
Auch privat erlebte Max Liebermann großes Glück, als im August 1885 seine einzige Tochter, die den Namen Marianne Henriette Käthe erhielt, jedoch stets nur Käthe genannt wurde, geboren wurde. Er ging gänzlich in der Vaterrolle auf und ließ den Pinsel in jener Zeit ungewohnt häufig ruhen.
Ich betrachte die Gebäude, wie die architektonisch vergleichsweise langweilige Botschaft der USA, das edle Hotel Adlon oder die Akademie der Künste mit der auffallenden Glasfassade, rund um den Pariser Platz. Nachdem dieser im Zweiten Weltkrieg beträchtliche Zerstörungen erlitten hatte, ließ die DDR die verbliebenen Gebäude vollständig abreißen. Nach dem Fall der Mauer wurde über die Bestimmung des Platzes kontrovers diskutiert und schließlich seine Neubebauung beschlossen.

Pariser Platz, Ende des 19. Jhd / gemeinfrei-public domain
Ich schaue zum ebenfalls neu errichteten Liebermann-Palais und bin beeindruckt von der exquisiten Wohnlage. Gegenüber lebten Carl und Felicie Bernstein, die ersten Sammler französischer impressionistischer Malerei in Deutschland, bei denen Max Liebermann Gemälde von Édouard Manet und Edgar Degas betrachtete. Zwischen Liebermann und den Bernsteins entwickelte sich eine Freundschaft, was auch daran abzulesen ist, dass Liebermann eines seiner ersten Porträts, ein Sujet, das er in den 1890er Jahren für sich entdeckte, von Carl Bernstein anfertigte.

Max Liebermann: Prof. Dr. Carl Bernstein, 1892 / © gemeinfrei – public domain
Die Wohnung der Bernsteins, Persönlichkeiten wie Adolph Menzel, Wilhelm Bode, Theodor Mommsen, Ernst Curtius oder Alfred Lichtwark gingen dort ein und aus, galt in der Stadt als bedeutender gesellschaftlicher Treffpunkt der Berliner Künstlerszene, der sich Liebermann fortan als akzeptiertes Mitglied zugehörig fühlen konnte.
Auch international genoss Liebermann mittlerweile ein beachtliches Renommee, was sich offenbarte, als er 1889 anlässlich der Hundertjahrfeier der Französischen Revolution in die Jury der Weltausstellung in Paris berufen wurde – eine Auszeichnung, die erheblichen Zündstoff in sich barg. Die Monarchien Russland, Großbritannien und Österreich-Ungarn verweigerten aus Ablehnung der Revolutionsfeier die Teilnahme und auch in Preußen wurde die Mitwirkung – und die zentrale Rolle Max Liebermanns – überaus kritisch beurteilt.
Liebermann gelang es trotz aller Widrigkeiten in Paris die erste Garde der deutschen Malerei zu präsentieren und rückte damit selbst endgültig in das Licht der breiten Öffentlichkeit. In Frankreich wurde er mit einer Ehrenmedaille und der Aufnahme in die Société des Beaux-Arts geehrt. Den ihm angetragenen Ritterschlag der Ehrenlegion lehnte er aus Rücksicht auf die preußische Regierung ab.

Max Liebermann: Carl Friedrich Petersen, 1891 / © public domain – gemeinfrei
Mit zunehmendem Erfolg nahm Liebermann allmählich Abschied von den Milieustudien arbeitender Menschen und schien die Muße zu finden, sich zugänglicheren Motiven zuzuwenden. Zudem erhielt er von nun an erste lukrative Aufträge – darunter auch Anfragen für Porträts, wie jene vom Hamburger Bürgermeister Carl Friedrich Petersen, dem das Resultat jedoch keinerlei Freude bereitete, sondern ihn geradezu empörte. Dem Politiker war die Natürlichkeit der Darstellung zuwider. Liebermann hatte ihn als einen gebrechlichen alten Mann dargestellt und ihm mittels historisierender Kleidung lediglich beiläufig Amtswürde verliehen. Alfred Lichtwark, Direktor der Hamburger Kunsthalle, der den Auftrag vermittelt hatte, sprach hinsichtlich des Bürgermeisterbildnisses offen von „einem Fehlschlag“. Die Freundschaft zwischen dem Museumsleiter und Max Liebermann blieb davon unberührt und für den Rest ihres Lebens bestehen. Auch Liebermanns Sympathie für Hamburg tat der Misserfolg keinen Abbruch. Er mochte den nüchternen Menschenschlag sowie die elegante und gepflegte Umgebung der Hansestadt.

Brandenburger Tor, ca. 1855 / © public domain-gemeinfrei
Ich stehe vor dem Brandenburger Tor, das in den 1790er Jahren auf Anweisung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. als Abschluss der Prachtstraße „Unter den Linden“, die in meinem Rücken in östlicher Richtung zum Berliner Stadtschloss führt, errichtet wurde. Der Bau diente der innen- und außenpolitischen Herrschaftsrepräsentation des Königs, der sich mit der Gestaltung des Tores nach dem Vorbild der Akropolis in Athen bewusst mit Perikles vergleichen wollte. Der antike Staatsmann sicherte mit seiner klugen Bündnispolitik eine lange Friedenszeit sowie die Vorherrschaft Athens. Ähnlich wollte Friedrich Wilhelm II. wahrgenommen werden und in Preußen ein goldenes Zeitalter entstehen lassen.
Für dessen seit 1888 regierenden Ur-Ur-Enkel hegte Max Liebermann nur wenig Sympathie. Wilhelm II. wirkte mit seinen traditionellen Auffassungen hinsichtlich der Anforderungen der Moderne überfordert. Insbesondere missfiel Liebermann das Bestreben des Kaisers, die Kultur des Landes unmittelbar zu beeinflussen, indem er sich Pläne der Hochschulen und Akademien vorlegen ließ, um, nach seinem Selbstverständnis als legitimer Sachverständiger, dafür Sorge zu tragen, dass sich im Reich möglichst nichts veränderte. Bezüglich der Malerei bevorzugte der Monarch idealisierte Historienbilder, mit denen die Nation und ihre Herrscher verherrlicht werden sollten. Jegliche neuen Einflüsse, wie sie beispielsweise aus Frankreich nahten, blieben ihm gänzlich fremd.

Wilhelm II. / © gemeinfrei-public domain
Max Liebermann erfreute sich hingegen an den neuen Kunstströmungen und begann eine beachtliche Sammlung französischer Impressionisten, darunter Werke von Manet, Monet, Cezanne und Renoir, aufzubauen. Gleichsam veränderte sich seine Malerei, indem der nüchterne Realismus zurücktrat und vom impressionistischen Licht durchbrochen wurde. Die Pinselführung erscheint im Vergleich zu Liebermanns früheren Arbeiten lockerer und der Farbauftrag großzügiger. Das Bild „Schweinemarkt in Haarlem“ aus dem Jahr 1891 veranschaulicht diese Entwicklung.

Max Liebermann: Schweinemarkt in Haarlem, 1891 / © public domain-gemeinfrei
Unter dem Druck der Regierung wuchs unter einigen Künstlern das Bestreben, sich unabhängig von staatlichen Maßregelungen zu machen und so gründete sich am 5. Februar 1892 in Berlin, unter Mitwirkung von Max Liebermann, die Künstlergruppe „Vereinigung der XI“. Die Gruppe verfolgte das Ziel, die eigenen, dem herkömmlichen Kunstbetrieb nicht zugänglichen Werke, einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und dem bestehenden Kunstleben in der Hauptstadt endlich eine Alternative entgegenzusetzen. Laut dem Maler Louis Corinth (1858 – 1925) kristallisierte sich Max Liebermann, der mittlerweile als unabhängige Autorität galt, alsbald als „heimliche Führer der anarchischen Elfer“ heraus.

Max Liebermann, 1895 / © gmeinfrei – public domain
Im selben Jahr verschlechterte sich der Gesundheitszustand seiner Mutter Philippine, weshalb Max mit seiner Familie das elterliche Palais am Pariser Platz bezog. Mit bemerkenswerter Selbstdisziplin ging er einem geregelten Tagesablauf nach. Um Punkt 10 Uhr verließ er das Haus, zog sich zum Arbeiten in sein Atelier in der Königin-Augusta-Straße 19 – heute Reichpietschufer am Landwehrkanal – zurück und kehrte um 18 Uhr zurück. „Ich bin in meinen Lebensgewohnheiten der vollkommene Bourgeois; ich esse, trinke, schlafe, gehe spazieren und arbeite mit der Regelmäßigkeit einer Turmuhr“, beschrieb er seinen Lebensstil. „Ich wohne in dem Haus meiner Eltern, wo ich meine Kindheit verbracht habe, und es würde mir schwer werden, wenn ich woanders wohnen sollte. Ich ziehe Berlin jeder anderen Stadt als bleibenden Wohnsitz vor.“

Max Liebermann in seinem Atelier in der Auguste-Viktoria-Straße vor seinem Gemälde „Schulgang in Laren“, 1898 / © public domain-gemeinfrei
Max Liebermann war es wichtig, seine Eltern im Alter zu begleiten und ihnen beizustehen. Als im September 1892 seine Mutter verstarb, betrachtete er es als seine Aufgabe, den in Apathie verfallenden Vater, mit dem ihm bislang kein sonderlich herzliches Verhältnis verband, zu trösten.

Max Liebermann: Die Eltern des Künstlers, 1891 / © gemeinfrei-public domain
Ich blicke an der hellen dreigeschossigen Fassade des im Jahr 1844 erbauten Palais Liebermann empor, das auf Wunsch des damaligen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. das benachbarte Brandenburger Tor nicht überragt.

Das Palais Liebermann / M.Graß
Die sachliche, klare und nüchterne Architektur scheint dem Charakter Max Liebermanns zu entsprechen. Nachdem dessen Vater 1857 das Haus erworben hat, zählten fortan preußische Großgrundbesitzer und Adelige, Industrielle sowie die bereits seit der deutschen Reichsgründung 1871 hier ansässige Französische Botschaft zu den Nachbarn der Liebermanns. Max Liebermann ging mit seiner schnoddrigen Berliner Art gerne über seine erlesene Heimatanschrift hinweg und veranschaulichte seinen Wohnort flapsig: „Jleich wenn Se zu Berlin rin komm‘, links!“.
Derweil eskalierte der Konflikt zwischen dem regierenden Wilhelm II., der Liebermann als „unverbesserlichen Anarchisten“ bezeichnete und dem Künstler, der wiederum den Kaiser prophetisch als „Wilhelm den Letzten“ betitelte.
Der Streit zwischen konservativen Kulturpolitikern auf der einen und fortschrittlichen Künstlern auf der anderen Seite gipfelte, als am 5. November 1892 der Verein Berliner Künstler Gemälde des damals noch weitestgehend unbekannten norwegischen Malers Edvard Munch ausstellte. In Berlin brach eine Welle der Empörung los, denn ein Großteil des Publikums sowie der Presse fasste Munchs Bilder als subversive Provokation auf. Der Druck auf die Ausstellungsorganisatoren wurde so immens, dass eine Generalversammlung des Vereins Berliner Künstler einberufen wurde, auf der mit 120 gegen 105 Stimmen die Schließung der Munch-Ausstellung beschlossen wurde. Mit diesem Akt hatte sich unwiderruflich die Spaltung zwischen den Anhängern der konservativ-reaktionären Lehrmeinung, als deren Wortführer sich Anton von Werner, der Direktor der Königlichen Hochschule der bildenden Künste, hervortat, und den Unterstützern einer liberalen und fortschrittlichen Kunstauffassung, zu deren bedeutendsten Köpfen Max Liebermann zählte, vollzogen. Noch am selben Abend gründeten sechzig Vereinsmitglieder – unter ihnen Max Liebermann – die Freie Künstlervereinigung.
Privat musste Liebermann einen weiteren Schicksalsschlag verkraften, als nach dem Tod seiner Mutter 1894 auch sein Vater Louis verstarb. Erst in dessen letztem Lebensabschnitt konnten die beiden Männer ihre fortwährenden Differenzen ausräumen und echte Zuneigung füreinander empfinden, weshalb Max der Verlust besonders schwer traf.
Ein Freund erinnerte sich an Liebermanns Niedergeschlagenheit, als er sich unmittelbar im Anschluss an die Beerdigung mit ihm in dessen Atelier zurückgezogen habe. „Mit Ächzen ließ er sich in einen Stuhl fallen und begann von der Hinfälligkeit des Irdischen zu reden… aber während er noch verschiedenes von dem Verstorbenen erzählte, stand er auf und machte sich, gleichsam unbewusst, an dem auf der Staffelei stehenden Bilder zu schaffen.“ Einige Augenblicke später habe Liebermann aufgeblickt: „Die Arbeit ist doch das einzige, was mich aufrecht hält.“

Max Liebermann vor dem Gemälde „Schreitender Bauer“, Katwijk, 1894 / © public domain-gemeinfrei
Mit dem Tode seines Vaters wurde Max Liebermann Miterbe eines Millionenvermögens und auch das vornehme Haus am Pariser Platz ging in seinen Besitz über, wodurch es ihm nun möglich war, seine ohnehin für einen Künstler ungewöhnlich komfortablen Wohnräume nach seinen Wünschen zu gestalten.
Mit der hoffnungsvollen Aussicht Max Liebermanns Lebensbereich nachzuspüren, nehme ich die wenigen Stufen zur Eingangstür und trete neben den Schild mit der Aufschrift „Liebermann Haus“ in das ernüchternd schmucklose Foyer des Gebäudes, wo ich an einen Tresen herantrete, hinter dem ein bebrillter Herr bemüht geschäftig auf einen Computermonitor starrt und geflissentlich meine Anwesenheit ignoriert. Letztlich blickt er doch gequält über sein dunkelbraunes Brillengestell zu mir empor, um mir wortlos verstehen zu geben, dass ich ihn nun mit meinem Begehren behelligen könne. Nachdem ich ihm dieses vorgetragen habe, wird der wenig emsige Herr ein wenig redseliger, verkündet mir jedoch, dass ich in dem Gebäude keinerlei Spuren von Max Liebermann mehr entdecken könne. Die Räumlichkeiten würden mittlerweile von der „Stiftung Brandenburger Tor“ genutzt, die hier ihren Sitz habe und lediglich sporadisch Ausstellungen oder Vorträge veranstalte.
Ich blicke flüchtig in einen ausgedehnten möbellosen Raum, in dem zwei Handwerker soeben einen neuen Bodenbelag zu verlegen scheinen und werfe anschließend einen Blick in das Treppenhaus, durch das hindurch unzählige Persönlichkeiten ihren Weg zu Max Liebermanns Wohnräumen genommen haben. Dieser hat gerne illustre Abendgesellschaften gegeben, fühlte sich wohl in der Rolle des Gastgebers und scharte interessante Gesprächspartner um sich, wobei er in seinem Leben nur wenige enge Freundschaften schloss.

Blick über den Pariser Platz auf das Brandenburger Tor Anfang Juni 1945 / © Foto: Weinrother, Carl / Presse- und Informationsamt der Bundesregierung – Bildbestand (B 145 Bild)
Ich muss mir jedoch in Erinnerung rufen, dass ich mich hier in einem Nachbau befinde, denn das Palais-Liebermann fiel, wie nahezu der gesamte Pariser Platz, einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg zum Opfer, sodass ich nun ein Gebäude verlasse, das erst nach dem Fall der Berliner Mauer in Anlehnung an das historische Vorbild rekonstruiert wurde.
Max Liebermann gelang es weiterhin sich in Berlin zu etablieren. 1896 wurde Hugo von Tschudi, der den aktuellen internationalen Kunstströmungen offen gegenüberstand, zum Direktor der Nationalgalerie berufen und förderte in dieser Funktion Liebermann tatkräftig, indem er einige seiner Zeichnungen für das Museum aufkaufte.
Auch die stockkonservative Akademie der Künste konnte sich fortan nicht mehr den modernen Einflüssen, als deren Repräsentant Max Liebermann galt, verschließen. Anlässlich Liebermanns 50. Geburtstag widmete die Akademie dem Jubilar eine umfangreiche Ausstellung. Zudem wurde ihm die Großen Goldenen Medaille sowie der Professorentitel verliehen und 1898 wurde er endlich in die Akademie aufgenommen. Sein Ansehen hatte seinen bisherigen Höhepunkt erreicht, was für Liebermann, bei all seinem Hang zur Unabhängigkeit, bedeutend war.

Akademie der Künste / M.Graß
Ich blicke hinüber zur gegenüberliegenden Seite des Pariser Platzes, wo, hinter der markanten Glasfassade, in der sich die umliegenden Gebäude spiegeln, die Akademie der Künste gegenwärtig ihren Sitz hat. Die traditionsreiche internationale Gemeinschaft, die Personen, die sich um die Künste verdient gemacht haben, vereint, hat den Auftrag, die Bildende Kunst, die Baukunst, die Musik, die Literatur, die Darstellende Kunst sowie die Film- und Medienkunst in Deutschland zu fördern. Die heutige Akademie, die in der Tradition der 1696 gegründeten Preußischen Akademie der Künste steht, konnte 2005 das von dem Architekten Günter Behnisch, der weltweite Bekanntheit durch den Bau des Münchner Olympiageländes erlangt hat, errichtete und unmittelbar an das Hotel Adlon angrenzend Gebäude, beziehen.

Akademie der Künste, Palais Arnim / © Foto: Carl Weinrother / Bundesarchiv, B 145 Bild-P049294 / CC-BY-SA 3.0
Als Max Liebermann in die Akademie aufgenommen wurde, tagte diese noch in einem Mehrzweckgebäude am Boulevard Unter den Linden, bevor sie 1902 in das repräsentative Palais Arnim am Pariser Platz umzog. Nachdem sich im Oktober 1993 im Zuge der deutschen Wiedervereinigung die Akademie der Künste der DDR und die West-Berliner Akademie der Künste zur heutigen Akademie der Künste zusammengeschlossen hatten, entschied diese, ihren künftigen Hauptsitz an dem historischen Ort in Berlins Mitte zu errichten.
Das Bauvorhaben an einem der repräsentativsten Orte Berlins betraf folglich die Debatte um die architektonische Selbstdarstellung des wiedervereinigten Deutschlands und sorgte bereits in seiner Planungsphase für kontroverse Auseinandersetzungen. Vornehmlich die etwa 40 Meter breite Fassade gab Anlass zum Streit, da sie nicht den architektonischen Anforderungen entsprach, die für die Bebauung des Pariser Platzes gelten, denn diese schreiben vor, dass maximal 50 Prozent der Fassadenflächen in Glas ausgeführt werden dürfen. Dennoch setzten sich die Befürworter des Entwurfs durch und der Senat erklärte sich, unter Missachtung seiner eigenen Vorgaben, für den Neubau mit der Glasfassade einverstanden.
Mit Bauschriften am Pariser Platz hatte bereits Max Liebermann mehr als 100 Jahre zuvor zu kämpfen. Unmittelbar nachdem er das stattliche Wohnhaus seiner Eltern geerbt hatte, beauftragte der neue Hausherr einen Architekten, um Pläne für den Bau eines Ateliers auf dem Dach des Gebäudes zu entwickeln. Doch die zuständigen Behörden lehnten das Ansinnen mit der Begründung, durch einen solchen Umbau würde die architektonische Gesamterscheinung um das Brandenburger Tor gestört, ab. Kaiser Wilhelm II., dem mit Liebermann eine herzliche gegenseitige Abneigung verband, nahm die Entwurfszeichnungen persönlich in Augenschein und kommentierte diese mit der Bemerkung „scheußlich“. Doch getragen von einer Mischung aus Sturheit, Großbürger-Anspruch und Freiheitsdrang gab Liebermann nicht auf und konnte, nach sich über mehrere Jahre hinziehenden Prozessen und einem zermürbenden Kleinkrieg, im April 1898 mit dem Bau des Ateliers beginnen.

Max Liebermann: „Das Atelier des Künstlers“, 1902 / © gemeinfrei-public domain
Sein Gemälde von 1902 zeigt den fertiggestellten Raum, dessen gewölbte Fenster, um bestmögliche Lichtverhältnisse zu gewährleisten, ein wenig über das Dach hinausragten. Liebermanns Darstellung darf aber auch als Bild seines persönlichen Triumphs über den Kaiser verstanden werden. In einem Brief verkündete er stolz: „Die Zinnen meines Ateliers ragen in den Himmel als Wahrzeichen freien Bürgermutes gegen Polizeiwillkür.“ Jahrzehnte hindurch deuteten die Berliner ehrfürchtig hinauf zum gläsernen Aufbau auf dem flachen Dach am Pariser Platz und raunten: „Da oben arbeitet Max Liebermann.“
Auch wenn der Künstler in seiner Heimatstadt mittlerweile bemerkenswertes Ansehen genoss, sollte der schwelende Streit um die Ausrichtung und Akzeptanz moderner Kunst noch einen weiteren Höhepunkt erreichen. Vermeintlich – denn die damaligen Vorgänge sind unter Kunsthistorikern strittig – in der Folge der Zurückweisung eines Landschaftsbildes des Malers Walter Leistikow durch die Jury der alljährlich stattfindenden Großen Berliner Kunstausstellung, forderte dieser 1898 die Schaffung einer Gemeinschaft unabhängiger Künstler. 60 Gründungsmitglieder folgten seinem Aufruf, riefen in unmissverständlicher Abgrenzung zu dem alteingesessenen Verein Berliner Künstler die Berliner Secession ins Leben und wählten Max Liebermann zu ihrem ersten Präsidenten. Dieser war zwar zunächst nicht als Wortführer der Bewegung hervorgetreten, wurde aber erfolgreich von seinen Kollegen zur Übernahme des Amtes gedrängt, da sein Bekanntheitsgrad sowie seine Autorität der Vereinigung sogleich öffentliches Interesse versprachen.
Für die erste Secessionsausstellung im Mai 1899 konnte Liebermann Künstler aus ganz Deutschland gewinnen, ergänzte diese erstklassige Auswahl mit Beiträgen aus der Künstlerkolonie Worpswede sowie von namhaften Künstlern wie Arnold Böcklin, Hans Thoma, Max Slevogt sowie Lovis Corinth und machte die Ausstellung zu einem rauschenden Erfolg. Neugierig strömten die Berliner in die Räumlichkeiten, sorgten somit dafür, dass die Öffnungszeiten gar verlängert werden mussten und Berlin unter Liebermanns Führung endlich ein europäisches Kunstereignis beheimateten konnte. Der Kaiser war über diese Entwicklung empört, wurden die von ihm bevorzugten verherrlichenden Historienbilder doch zunehmend von Darstellungen „armer Leute und Hinterhofselend“ (Wilhelm II.) verdrängt.
Als Zeichen der Verbundenheit porträtierten sich die Protagonisten der Secession gegenseitig:


Lovis Corinth: „Max Liebermann“, 1899 / Max Liebermann: „Lovis Corinth“, 1899 / © Public domain-gemeinfrei
Berlins Rolle wandelte sich grundlegend, denn mit Liebermann an der Spitze kam der Stadt nun endlich auch in der Kunst ihre angemessene Stellung als Hauptstadt zu und das Haus und Atelier von Max Liebermann wurde dabei zu einem zentralen Ort, der von Besuchern geradezu ehrfürchtig betreten wurde. Die Schauspielerin Tilla Durieux (1880 – 1971) erinnert sich: „Liebermanns Haus betrat ich mit Herzklopfen und fand ein wahres Museum. Zum ersten Mal im Leben sah ich ein solches Interieur. […] Im Atelier blieb ich zunächst eine Weile mit offenem Mund stehen.“

Max Liebermann in seinem Atelier am Pariser Platz, ca 1905 / © gemeinfrei – public domain
Liebermanns Bilder entwickelten sich um die Jahrhundertwende zunehmend weg von detaillierten Zeichnungen, wurden stattdessen vielmehr von lebendigen Farbfeldern dominiert, wodurch die Bedeutung der Individualität dargestellter Menschen gegenüber ästhetischen Ansprüchen zurücktrat. Liebermann selbst hat seine Entwicklung kommentiert: „Worauf ich mir wirklich etwas einbilde, ist die Überwindung der Linie.“

Max Liebermann: Papageienmann, 1900 / © gemeinfrei-public domain
1902 reiste Liebermann auf Einladung seines Freundes und Direktors der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark, erneut nach Hamburg, um dort für die „Sammlung von Bildern aus Hamburg“ Motive der Umgebung zu malen, wobei eines seiner bekanntesten Werke „Terrasse des Restaurants Jacob in Nienstedten an der Elbe“ entstand.

Max Liebermann: Terrasse im Restaurant Jacob in Nienstedten an der Elbe, 1902 / © gemeinfrei-public domain
Liebermann war mittlerweile eine der bekanntesten Persönlichkeiten Deutschlands und galt als anerkannte Respektsperson in der Kunstszene, weshalb seine erste Veröffentlichung als Professor der Akademie der Künste auf reges Interesse stieß. Unter dem Titel „Die Phantasie in der Malerei“ formulierte er das Postulat, die Anschauung der Wirklichkeit müsse die Grundlage jeder Malerei sein. Das Motiv sei dabei im Grunde gleichgültig. Entscheidend sei „die den malerischen Mitteln am meisten adäquate Auffassung der Natur“, womit er sich nicht nur für den Naturalismus und Impressionismus aussprach, sondern sogleich die junge Bewegung der abstrakten Kunst und den aufkommenden Expressionismus entschieden ablehnte.

Max Liebermann, 1904 / © Jacob Hilsdorf / public domain-gemeinfrei
Die Ausstellungen der Berliner Secession entwickelten sich in Deutschland zu dem bedeutendsten Kunstereignis und einem wahren Besuchermagnet, sodass schon bald ein größeres Ausstellungsgebäude am Kurfürstendamm bezogen werden konnte.

Berlin 1905: Vorbereitung der Ausstellung der Berliner Sezession. Die Jury v.l.n.r. Paul Cassirer, Lovis Corinth, Fritz Klimsch, Max Liebermann, Max Slevogt, Hermann Hirzel, Graf Leopold von Kalckreuth / © gemeinfrei-public domain
1907 widmete die Vereinigung ihrem Präsidenten zu dessen sechzigsten Geburtstag eine umfangreiche Jubiläumsausstellung, die ein enormer Besuchererfolg wurde, womit die Begeisterung um seine Person einen weiteren Höhepunkt erreichte. Voller Respekt nannten die Berliner Max Liebermann den „heimlichen Kaiser“, über dessen Wohnräume Besucher wiederholt beeindruckt berichteten. Die Wände waren mit einzigartigen impressionistischen Gemälden versehen und imposante Kronleuchter, hochwertige Teppiche und üppige Blumenkübel zierten die Räumlichkeiten. Das Musikzimmer war mit französischen und japanischen Möbeln ausgestattet und in der Bibliothek lodere ein behagliches Kaminfeuer.

Speisezimmer von Max Liebermann / © gemeinfrei-public domain
Galt das Liebermann-Palais in jenen Jahren als die erste Adresse im gesellschaftlichen Leben Berlins, erregt das Haus heute erkennbar weniger Aufsehen, denn die Touristenscharen finden sich vorrangig einige Schritte entfernt vor dem Brandenburger Tor, aus dessen Richtung allerlei Sprachfetzen aus aller Herren Länder an mein Ohr dringen, zusammen. Ich blicke auf zahlreiche Kameraobjektive, die auf das weltbekannte Wahrzeichen gerichtet sind und beobachte vornehmlich junge Menschen, die für ein Selfie mit dem Tor im Hintergrund eine vermeintlich fotogene Haltung einnehmen. Doch mich lockt gegenwärtig nicht der vorherrschende Trubel, sondern das unmittelbar an das Brandenburger Tor angrenzende Torhaus, das ich durch eine unscheinbare Tür betrete, hinter der sich der öffentlich zugängliche Raum der Stille, ein Ort der Einkehr inmitten der Großstadthektik, befindet.

Ich gelange zunächst in einen Vorraum, der von mehreren Künstlern gestaltet wurde. So hat Paul Corazolla, der in Deutschlands vor allem durch seine Bleiglasfenster in Kirchen bekannt wurde, eine blaue Wand mit dem Wort „Stille“ in verschiedenen Sprachen gestaltet und somit den Leitgedanken des Hauptraumes vorgegeben. Dort finde ich ein wohltuend schlicht gestaltetes, etwa 30 qm großes Zimmer, in dem absichtsvoll auf religiöse oder weltanschauliche Symbole verzichtet wurde. Als einzige Dekoration dient ein abstrakter Webteppich. Der Raum der Stille soll zur Toleranz unter den Menschen, Nationalitäten und Ideologien aufrufen und Menschen die Möglichkeit geben, zu beten, zu meditieren, sich der historischen Bedeutung dieses Ortes bewusst zu werden oder einfach einen Moment Ruhe zu finden.
Anfang des 20. Jahrhunderts kamen Pläne auf, die Gebäude rechts und links neben den beiden Torhäusern – und somit auch das Liebermann-Palais – abzureißen, um das Brandenburger Tor, in Anlehnung an den Arc de Triumph in Paris, repräsentativer erscheinen zu lassen. Der Kaiser schickte einen Gesandten zu Max Liebermann, um in Verhandlungen über den Kauf des Gebäudes einzutreten, doch der Hausherr reagierte in seiner charakteristischen Berliner Mundart und ließ Wilhelm II. ausrichten: „Nun will ick ihnen mal wat sagen, Exzellenz: jehn se zum Kaiser und sagen se, der Liebermann hätte jesagt: der Kaiser wohne uff det Ende von de Linden und der Liebermann wohne uff dies Ecke von de Linden, und ebenso wie der Kaiser nich uff det Ende von de Linden rausjeht, jeht der Liebermann nich uff dies Ende von de Linden raus. Wissen se, Exzellenz, sagen se seiner Majestät ruhig: nur mit de Füße voran verließe der Liebermann sein Haus.“ Mit dieser schnodderigen Antwort hatten sich die architektonischen Überlegungen unmissverständlich und dauerhaft erledigt.
Doch während Liebermann diese Angelegenheit noch schnell und mühelos aus der Welt schaffen konnte, zogen allmählich aus unterschiedlichsten Richtungen dunkle Wolken auf. Das Satireblatt „Kladderadatsch“ veröffentlichte 1908 eine bösartige Liebermann-Karikatur, in der er als klischeehafter Jude mit gebogener Nase und übergroßen Ohren dargestellt wurde – ein Vorbote auf das Kommende. Fast überall in Europa verstärkten sich nationalistische Tendenzen und in Deutschland wurde Stimmen laut, die eine deutsche Kunst forderten, die sich von ausländischen Einflüssen befreien solle. Der Künstler Carl Vinnen verfasst ein Manifest, in dem er die Gefahren für „unser Volkstum“ durch „fremde Einflüsse“ beschrieb.
Parallel zu diesen verhängnisvollen Entwicklungen brach ein seit einiger Zeit schwelender Generationenkonflikt aus, als der Secessionsvorstand 27 expressionistische Bilder für seine Ausstellung 1910 zurückwies. Mittlerweile stellten Expressionisten wie Max Pechstein und Emil Nolde herkömmliche Kunstauffassungen radikal infrage, wodurch sich Liebermanns Rolle vom einstigen Rebellen zum konservativen Wortführer wandelte. Den Gegenpart in der Auseinandersetzung vertrat Emil Nolde: „Dem so klugen alten Liebermann geht es wie manchem klugen Mann vor ihm: Er kennt seine Grenzen nicht; sein Lebenswerk […] zerblättert und zerfällt; er sucht zu retten, wird dabei nervös und phrasenhaft. […] Er selbst beschleunigt das Unvermeidliche, wir Jüngeren können es gelassen mit ansehen.“
Nolde warf Liebermann eine diktatorische Ausübung seines Amtes sowie eine generelle Fortschrittsfeindlichkeit vor, was der Realität zumindest nicht gänzlich entsprach, denn 1910 wurden beispielsweise erstmals Werke von solch fortschrittlichen Künstlern wie Pablo Picasso, Henri Matisse oder Georges Braque in der Ausstellung präsentiert. Die Secession stellte sich in dem Streit hinter ihren Präsidenten, stimmte in einer Generalversammlung mit 40 zu 2 Stimmen für den Ausschluss Noldes, wogegen sich Max Liebermann trotz der persönlichen Differenzen deutlich aussprach und für eine der beiden Gegenstimmen verantwortlich zeichnete.

Max Liebermann: Selbstporträt, 1910 / © gemeinfrei-public domain
Obwohl Liebermann aus der Debatte gestärkt hervorging, war die Secession in ihren Grundfesten erschüttert, deren Spaltung kaum mehr aufzuhalten und es sollte sich zeigen, dass ihr Präsident Max Liebermann nicht mehr die Geduld und Entschlossenheit aufbringen wollte, den Konflikt zu entschärfen oder zu moderieren. Er hatte seine Schlachten geschlagen und war nicht mehr gewillt, sich durch kulturpolitische Diskussionen von seiner Arbeit als Künstler ablenken zu lassen.