Unterwegs… in Berlin (Jüdischer Friedhof Schönhauser Allee)
Max Liebermann – Teil 4: Zerbrochene Träume
„Ich will die neue Welt um mich herum nicht sehen“
(Max Liebermann)
Ich stehe, umgeben von mit Graffiti versehenen Wänden, vor einer verschlossenen Eisentür, in die in Augenhöhe zwei Davidsterne eingelassen sind, durch die ich auf einen etwa sieben Meter breiten Weg schaue.
Ich befinde mich in der Nähe der nach dem Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus Ernst Knaack (1914 – 1944) benannten Knaackstraße und blicke auf den sogenannten „Judengang“, der im 19. Jahrhundert angelegt wurde. Dies geschah angeblich auf Weisung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III., der sich in seiner Kutsche, die ihn Richtung Schloss Schönhausen beförderte, von trauernden Juden gestört fühlte, die auf dem Weg zu Beisetzungen die Schönhauser Allee zum Friedhof entlanggingen. Er habe die jüdische Gemeinde daher ersucht, künftig den abgeschiedenen Hintereingang des Friedhofs, zu dem diese Gasse führt, zu nutzen.
In der Nachkriegszeit funktionierten die Bewohner der Kollwitzstraße das „Niemandsland“ um, legten sich kleine Gärten an, säumten den Weg mit Girlanden und Lampions und entzündeten hier an lauen Sommerabenden ihre Grills. Die ursprüngliche Bestimmung der Gasse geriet in Vergessenheit, bis der Gartenarchitekt Joachim Jacobs um die Jahrtausendwende den „Judengang“ wiederentdeckte.
Mittlerweile habe ich das im 19. Jahrhundert aus rotem Backstein gemauerte Eingangstor zum jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee, einer Parallelstraße des „Judengangs“, erreicht, trete hindurch und treffe zunächst auf eine Gedenktafel:
„Dieser Jüdische Friedhof wurde 1827 seiner Bestimmung übergeben / ‚
In der Zeit von 1933–1945 wurde er von den Faschisten zerstört / Der Nachwelt soll er als Mahnung erhalten bleiben“
Den Aufstieg der Faschisten verfolgte Max Liebermann – für ihn, der nicht zu extremen Emotionen neigte, ungewohnt – hasserfüllt. Beim Betrachten seiner Selbstporträts der späten 1920er und 1930er Jahre blickt man in zunehmend hoffnungslosere Augen – in unmelancholische Augen, die nichts mehr sehen wollen.
1931
Anlässlich seines 85. Geburtstags fand eine große Feier in seiner Villa am Wannsee statt, wo ihm die Ehrenbürgerurkunde der Stadt Berlin überreicht wurde. Die Festlichkeiten waren zugleich Max Liebermanns Abschied aus dem öffentlichen Leben. Er kehrte sich ab von der Welt, die ihm immer mehr zuwider wurde. Seine Bilder offenbaren jedoch keine nachlassende Kraft. In leuchtenden Farben malte er Motive aus seinem Garten, für den er sich nach wie vor begeisterte. Er wählte voller Enthusiasmus Pflanzen aus, deren Farbnuancen und Standorte er genauestens plante und nervte mit seinen pedantischen Anliegen nicht unerheblich die angestellten Gärtner. Der Wannseegarten wurde zu seinem Universum.
Ein weitaus abgeschlosseneres Universum betrete ich mit dem von hohen Mauern begrenzten jüdischen Friedhof. 1824 hatte die Jüdische Gemeinde das etwa 5 Hektar große Grundstück von dem Meiereibesitzer Wilhelm Gotthold Büttner für 5800 Taler erworben und es am 29. Juni 1827 mit der Grablegung einer gewissen Sara Meyer, geb. Benda, als Friedhof eingeweiht. Bis 1880 wurden hier alle in Berlin gestorbenen Juden beigesetzt, bis sich angesichts der rasant steigenden Einwohnerzahl abzeichnete, dass das Areal nicht ausreichen würde und der Jüdische Friedhof in Weißensee angelegt wurde.
Max Liebermann scheint sich zeit seines Lebens wenig Gedanken um seine Religionszugehörigkeit gemacht zu haben. Es deutet wenig darauf hin, dass er seinen Glauben streng ausgeübt hat und im Hause Liebermann wurde Weihnachten ebenso begangen wie Jom Kippur. „Ich feiere alle Feste, christliche, jüdische, mohammedanische mit“, bekannte er augenzwinkernd.
1932 erkrankte Liebermann ernsthaft und stellte sein Amt als Präsident der Akademie der Künste zur Verfügung, wurde aber gleichzeitig zu ihrem Ehrenpräsidenten gewählt. Mithilfe der Behandlung seines befreundeten Arztes Ferdinand Sauerbruch (1875 – 1951), einem der bedeutendsten und einflussreichsten Chirurgen des vergangenen Jahrhunderts, kam Liebermann recht schnell wieder auf die Beine. Er fertigte ein Porträt von Sauerbruch an, das den Abschluss seines Porträtwerkes darstellt.
Ferdinand Sauerbruch, 1932
Ich habe derweil meinen Friedhofsrundgang begonnen und passiere an den breiteren Hauptwegen einige aufwendig gestaltete Grabstätten, wobei auf dem Areal schmucklose, eng zusammenstehende Grabsteine, auf die durch die Blätter der hohen Ahorne, Linden und Kastanien bezaubernde Lichtflecken fallen, vorherrschen. Manche Grabsteine lehnen aneinander, andere sind umgestürzt und wie fast der gesamte Boden von Efeu und wildem Wein überwuchert. Die Natur mit all ihrer Energie und Lebenskraft trifft auf Sterblichkeit.
Die sichtbaren Schäden sind einerseits Folge von natürlichen Prozessen, teilweise auch das Resultat der Bombenabwürfe des 2. Weltkriegs, aber auch Spuren antisemitischen Vandalismus.
Dass der Antisemitismus einen traurigen Sieg feiern würde, wurde Max Liebermann vermutlich Anfang der 1930er Jahre bewusst. An einem frostigen Winterabend verfolgte er fassungslos am Fenster im zweiten Stock seines Hauses am Pariser Platz den Fackelzug des enthemmten Nazimobs, der die Ernennung Adolf Hitlers (1889-1945) zum Reichskanzler und den Wandel Deutschlands in ein totalitäres Regime feierte und äußerte beim Betrachten seinen berühmten Ausspruch: „Ick kann jar nich soville fressen, wie ick kotzen möchte.“
Vermutlich wäre Max Liebermann in diesem verhängnisvollen Augenblick der deutschen Geschichte gerne ähnlich allein gewesen, wie ich es soeben bin. Ich durchschreite ein Refugium aus sich weitestgehend selbst überlassenen Kleinbiotopen mit bemoosten Steinen, überwuchernden Spuren menschlichen Lebens und erlebe völlige Abgeschiedenheit inmitten der pulsierenden Metropole Berlin. Hier wurden, ungeachtet jeglicher Ehrfurcht und Pietät, während des 2. Weltkriegs Verzierungen und Grabgitter aus Metall geraubt, eingeschmolzen und zwischen den Gräbern Schützengräben gezogen. Angesichts der erkennbaren Spuren der Jahrhunderte, die hier zu entdecken sind, erscheint mir das menschliche Verhalten ungeheuer abwegig, grotesk und abstoßend.
Unmittelbar nach der faschistischen Machtergreifung wurden jüdische Mitglieder aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen, wobei Max Liebermann, sicherlich aufgrund seines hohen Ansehens in der Bevölkerung, dabei außen vorgelassen wurde. Doch um den bislang gesellschaftlich eingebundenen und hochgeschätzten Liebermann, der fortan spürbar gemieden wurde und dessen Werke nach und nach aus den öffentlichen Sammlungen und Galerien verschwanden, wurde es ruhig. Die Zeiten der illustren Abendgesellschaften am Pariser Platz und der ausgedehnten Abendessen in der Wannseevilla waren vorüber.
Fraglos auch um der Erniedrigung des unvermeidbaren Ausschlusses zuvorzukommen, legte Max Liebermann am 7. Mai 1933 die Ehrenpräsidentschaft sowie die Mitgliedschaft in der Akademie der Künste nieder und erklärte desillusioniert sein Vorgehen: „Ich habe während meines langen Lebens mit allen meinen Kräften der deutschen Kunst zu dienen gesucht. Nach meiner Überzeugung hat Kunst weder mit Politik noch mit Abstammung etwas zu tun, ich kann daher der Preußischen Akademie der Künste […] nicht länger angehören, da dieser mein Standpunkt keine Geltung mehr hat.“
Somit war Max Liebermanns langer, streitbarer und konfliktreicher Weg durch die Kulturinstitutionen bis zum Präsidentenamt der renommierten Akademie der Künste Geschichte.
Die gesellschaftliche Gleichberechtigung der Juden war in den vergangenen Jahrzehnten schrittweise vorangeschritten. 1812 hatte Friedrich Wilhelm III. das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden“ erlassen, in dem er Juden das Staats- und Gemeindebürgerrecht, Wahlrecht, Gewerbefreiheit und Niederlassungsfreiheit zugestand. Auf dieser Grundlage konnte Max Liebermanns Großvater, Josef Liebermann, 1823 aus seiner Heimat im märkischen Friedland nach Berlin umsiedeln, um dort die Chancen zu nutzten, die sich ihm mittels der gedeihenden Industrialisierung boten, und beträchtlichen Wohlstand erlangen.
Die Juden ihrerseits waren zunehmend bereit, sich in der sie umgebenden Gesellschaft, kulturell zu integrieren und diese tief greifenden Veränderungen des jüdischen Lebens im Berlin des 19. Jahrhunderts hinterließen auch auf dem Friedhof an der Schönhauser Allee sichtbare Spuren. Die zuvor einheitliche jüdische Friedhofskultur veränderte sich und glich sich der Umgebung an. Während deutsche Inschriften auf jüdischen Grabsteinen im 18. Jahrhundert noch nicht vorkamen, erschienen sie nun auf der Rückseite, bald aber auch auf der Vorderseite der Gräber, wo sie das hergebrachte hebräische Schema verdrängten.
Während auf älteren jüdischen Friedhöfen kaum Unterschiede zwischen einzelnen, annähernd einheitlich geformten Grabmalen auszumachen sind, entstanden hier Grabstellen von sehr unterschiedlichem Aussehen. Eine gänzlich neue Erscheinungsform bildeten die Wandgräber entlang der Friedhofsmauer, die aus verputztem Backsteinmauerwerk gestaltet wurden. Diese Gräber waren sowohl Ausdruck eines Repräsentationsbedürfnisses als auch eines Gefühls bis dahin nicht gekannter Sesshaftigkeit und wurden auch für zukünftige Generationen angelegt.
Eine der über 200 Wandgrabstätten hat Mitte des 19. Jahrhunderts Joachim Liebermann, der mit seinem Bruder Joseph, dem Großvater Max Liebermanns, das Textilhandelshaus, auf dem der Wohlstand der Familie beruht, aufgebaut hat, erworben. Max Liebermanns Vater Joseph hat gegenüber der Grabstätte seines Großonkels ebenfalls ein Familiengrab erstanden.
Er war es auch, der 1857 das großzügige Palais am Brandenburger Tor gekauft hat, das Max Liebermann zu einem gesellschaftlichen Treffpunkt formte, der mit der Machtergreifung der Faschisten schlagartig gemieden wurde. Sein Freund Oskar Kokoschka ergriff aus seinem Pariser Exil Partei für Liebermann und blieb einer der wenigen, der sich zu ihm bekannte. Im Gegensatz zu seinem Weggefährten lehnte Liebermann es ab, Deutschland zu verlassen. „Einen alten Baum kann man nicht mehr umpflanzen.“ Er schien in Depression zu verfallen, äußerte wiederholt, er fühle sich verlassen, habe mit seinem Leben abgeschlossen und wolle nur noch sterben. Der einst kämpferische Geist gab auf.
Ich passiere das Grab des Nähmaschinenfabrikanten Ludwig Loewe (1837-1886). Bemerkenswert ist die aus Quadern zusammengesetzte pyramidenförmige Grabstätte seiner Ehefrau Sophie Loewe, an der oberhalb einer Gedenktafel ein Porträtmedaillon angebracht ist. Die bildliche Darstellung einer Verstorbenen ist ungewöhnlich, stellt eine Missachtung der Tradition der Bildnislosigkeit auf jüdischen Friedhöfen dar und kann gewiss als Ausdruck der fortdauernden Liebe Loewes zu seiner jung verstorbenen Frau interpretiert werden.
Der Komponist und Generalmusikdirektor der königlichen Oper in Berlin Giacomo Meyerbeer (1791-1864) liegt in der klassizistischen Familiengrabstätte an der nördlichen Friedhofsmauer begraben. Ab 1842 lebte der Musiker am Pariser Platz 6a, wo 15 Jahre später die Liebermanns seine Nachbarn wurden und da seine Tochter Cornelie im gleichen Alter wie Max Liebermann war, ist es denkbar, dass die beiden als Kinder zusammen auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor gespielt haben.
Ich entdecke auch die Gedenktafeln seiner Mutter Amalie Beer (1767 – 1854), die einen der bekanntesten Berliner Salons des 19. Jahrhunderts unterhielt. In ihrer luxuriösen Villa im Tiergarten, etwa dort wo heute das Bundeskanzleramt aufragt, trafen sich Berliner Intellektuelle zum Gedankenaustausch, wobei jeder Gast, unabhängig welcher Gesellschaftsschicht oder Religion er angehörte, herzlich empfangen wurde.
Ähnlich ging es über Jahrzehnte im Hause Liebermann zu, bis Max Liebermann sich vollständig aus der Öffentlichkeit zurückzog, die gegenwärtige Realität nicht mehr registrieren wollte und während kaum einer seiner einstigen Weggefährten den Kontakt zu ihm aufrechterhielt, suchte einzig Käthe Kollwitz noch Zugang zu ihm. 1934 versuchte sie ihn vergeblich zum letzten Mal zu besuchen und beschrieb spürbar niedergeschlagen: „War bei ihm. Er ist krank und nicht zu sprechen. Frau Liebermann, jetzt 77-jährig, seufzt und ist müde. Sie sagt, dass Liebermann sehr niedergedrückt sei. Nur wenn er arbeiten kann, vergisst er alles Quälende.“
Einem seiner letzten Besucher gestand der einst so kontrollierte und nüchterne Liebermann: „Ich lebe nur noch aus Hass. […] Ich schaue nicht mehr aus dem Fenster dieser Zimmer – ich will die neue Welt um mich -herum nicht sehen.“
Liebermanns letztes Selbstbildnis, 1934
In einem bitteren desillusionierten Brief schrieb er: „Für die jüdische Jugend sehe ich keine Rettung als die Auswanderung nach Palästina, wo sie als freie Menschen aufwachsen kann (…) leider bin ich zu alt, um auszuwandern…“
Liebermanns letztes Bildmotiv war vor diesem Hintergrund vermutlich nicht zufällig gewählt. „Die Heimkehr des Tobias“ ist seine Darstellung einer Geschichte aus den Apokryphen, in der Tobias jahrelang auf der Suche nach einem Heilmittel für seinen erblindeten Vater unterwegs ist. Er kehrt heim und die mitgebrachte Salbe heilt den Vater tatsächlich. Als dieser viele Jahre später stirbt, prophezeit er mit seinen letzten Worten seinen Söhnen: „Unsere Brüder werden zerstreut werden […] aber Gott wird sich ihrer wieder erbarmen und sie in das Land zurückführen.“
1936 stellte Martha Liebermann das Gemälde dem Berliner Jüdischen Museum für eine Gedächtnisausstellung zu Ehren ihres Mannes zur Verfügung, wo es zunächst in der Kunstsammlung verblieb, bis es 1938 von der Gestapo beschlagnahmt wurde. Zu Beginn der 1950er-Jahre wurde es dem Israel-Museum in Jerusalem übergeben, wo das Gemälde im Rahmen von Nachforschungen eindeutig als einstige Leihgabe von Martha Liebermann ausgewiesen werden konnte und an die Erbinnen von Max und Martha Liebermann in den USA ausgehändigt wurde, von denen es mit Mitteln verschiedener Stiftungen erworben werden konnte und seit einigen Jahren dauerhaft in der neuen Synagoge in Berlin zu sehen ist.
Am 8. Februar 1935 starb Max Liebermann in seinem Haus am Pariser Platz. Käthe Kollwitz teilte mit, ihr Freund sei abends um sieben Uhr ruhig eingeschlafen. Die Totenmaske fertigte auf Wunsch von Martha Liebermann Arno Breker an, der zum Freundeskreis Max Liebermanns zählte und als Hitlers bevorzugter Bildhauer in den kommenden Jahren mit Staatsaufträgen für die von Albert Speer geleitete Neugestaltung der Hauptstadt Berlin bedacht wurde.
Der Tod des noch kurz zuvor hoch angesehenen Künstlers war den bereits gleichgeschalteten Medien keine Nachricht wert. Noch wenige Jahre zuvor hätte die Akademie der Künste, die nun jegliche Ehrung ihres einstigen Präsidenten ablehnte, eine feierliche Trauerfeier abgehalten. Zu Liebermanns Beerdigung am 11. Februar 1935 erschien kein offizieller Vertreter der Stadt, deren Ehrenbürger er seit 1927 war und kein Würdenträger, der in der Vergangenheit Liebermanns Nähe gesucht hatte und in dessen Haus am Pariser Platz ein- und ausging. Unter der unverhohlen drohenden Beobachtung der Gestapo versammelten sich nur wenige Aufrechte um seinen schlichten mit weißem Flieder bedeckten Sarg, darunter Käthe Kollwitz, das Künstlerehepaar Hans und Mathilde Purrmann, die Maler Konrad von Kardorff und Otto Nagel, der Chirurg Ferdinand Sauerbruch mit seinem Sohn Hans sowie der Bildhauer Georg Kolbe.
Hans Purrmann erinnert sich an diesen traurig-bitteren Tag: „Mit Liebermann stand Kardorff sein Leben lang in Verbindung. […] Er litt darunter, dass Liebermann das bittere Schicksal traf, so verachtet in Deutschland sterben zu müssen, und wir beschlossen, an seinem Begräbnis teilzunehmen. Wir riefen die Preußische Akademie an, ob sie irgendeine Ehrung vorgesehen habe und wurden kühl und kurz abgefertigt. […] Wir waren die einzigen Maler und nur das schwermütige und schöne Gesicht der so hochstehend menschlichen und künstlerischen Käthe Kollwitz leuchtete aus der kleinen Menge Leidtragender heraus.“
83 Jahre später stehe ich unweit der südöstlichen Friedhofsmauer vor Max Liebermanns sowohl mit hebräischer als auch deutscher Sprache versehenen Grab.
Die großzügige Familiengrabstätte besteht aus einem reichlich verzierten steinernen Grundstock sowie einer kunstvoll verschnörkelten schmiedeeisernen Einfassung, die zusammen eine stilvolle Einheit ergeben.
Die Grabstätte erlitt während des Zweiten Weltkrieges ebenso wie der gesamte Friedhof, dessen Eingangsbebauung nahezu vollständig zerstört wurde, erhebliche Beschädigungen. Manche Gräber fielen Bomben- oder Granateinschlägen zum Opfer. Verzierungen und Metallgitter wurden geraubt und eingeschmolzen und in den letzten Kriegswochen wurden auf dem Friedhofsgelände gar Schutzgräben ausgehoben und mit Grabsteinen befestigt, wobei nicht genutzte Steine willkürlich übereinander gehäuft wurden.
Vor etwa 15 Jahren konnte die Familiengrabstätte der Liebermanns vollständig restauriert und im Beisein vom damaligen Bundestagspräsident Wolfgang Thierse feierlich eingeweiht werden.
Lange verweile ich an Liebermanns Grab, wo meine Gedanken um dessen Leben und vieles mehr kreisen. Es existieren vermutlich nur wenige Orte in der betriebsamen Hauptstadt, die derart abgeschieden und kontemplativ wirken wie dieser Friedhof, der mit seinen umgestürzten und verfallenden Grabsteinen als ein Mahnmal für das Leid und die Entwürdigungen, die jüdische Berlinerinnen und Berlinern erdulden mussten, betrachtet werden kann. Zugleich strahlt dieser Ort eine einzigartige morbide Schönheit aus, die jene Zeit deutsch-jüdischer Symbiosen, an die Max Liebermann so sehr geglaubt hat, in Erinnerung ruft.
Es ist tragisch und eine Schande, dass jemand, der sich um die Kultur in Deutschland derartige Verdienste erworben hat, seine letzte Lebensphase verbittert und einsam verbringen musste und diesen Traum zerplatzen sah, wobei ihm die verhängnisvollsten und menschenverachtendsten Auswüchse des Nationalsozialismus durch seinen Tod erspart geblieben sind. Die Ausreise seiner Tochter Käthe, die einige Tage nach den Novemberpogromen mit ihrer Familie in die USA emigrierte und dort den Rest ihres Lebens verbrachte, musste er nicht mehr erleben. Seine Gattin Martha Liebermann weigerte sich, Berlin und die Nähe zum Grab ihres Mannes zu verlassen.
Nur wenige Tage nachdem sie ihre Tochter für immer verabschiedet hatte, erhielt sie, auf der Basis der Verordnung zur „Sühneleistung für den Mord an Ernst vom Rath“, nach der die deutschen Juden für die Schäden, die durch die Novemberpogrome entstanden sind, 1 Milliarde Reichsmark aufbringen sollten, die Aufforderung 665.000 Reichsmark zu zahlen, weshalb sie sich gezwungen sah, ihren gesamten Schmuck sowie Gemälde aus der wertvollen Sammlung ihres Mannes zu veräußern. Der kurz darauf erlassene sogenannte „Judenbann“, der es Juden verbot, bestimmte Berliner Plätze und Straßen aufzusuchen – darunter auch den Pariser Platz – untersagte es ihr, das eigene Haus am Pariser Platz zu betreten.
Ich trete an eine Metalltafel, die unmittelbar neben einem vergitterten Schacht angebracht ist, der zu einer Zisterne führt, die daran erinnert, dass sich auf dem Gelände einst eine Brauerei befunden hat. In dieser haben sich in den letzten Kriegswochen einige junge Deserteure versteckt, deren Schicksal ich der Inschrift auf der Tafel entnehmen kann: „Den Tod anderer nicht zu wollen – das war ihr Tod. Hier verbargen sich am Ende des Jahres 1944 Kriegsgegner. Sie wurden von der SS entdeckt, an den Bäumen erhängt und hier verscharrt.“
In einer Nische entdecke ich den auffallend hellen Grabstein von Vera Frankenberg. Die jüdische Mutter des nur 14 Jahre alt geworden Mädchens war bereits von den Nazis ermordet worden, als Vera bei einem Fliegeralarm im April 1945 kurz vor Kriegsende aufgrund ihrer Herkunft der Zutritt zum rettenden Luftschutzkeller untersagt wurde. Schutzlos und allein wurde sie unter Trümmern begraben. Ich stehe eine Weile vor ihrem Grab… und ringe um Fassung, Worte und Gedanken.
Die Schikanen gegenüber Martha Liebermann setzten sich indes fort. 1940 wurde sie gezwungen ihre geliebte Wannsee-Villa samt Inventar an die Deutsche Reichspost zu verkaufen. Den ohnehin lächerlich geringen „Kaufpreis“ hat sie nie erhalten.
Am 4. März 1943 erhielt die gepeinigte 85-jährige Frau die Mitteilung, ihre Deportation in das KZ Theresienstadt stände unmittelbar bevor. Sie sah keinen Ausweg, schluckte in der darauffolgenden Nacht eine Überdosis des Schlafmittels Veronal, sodass der Beamte, der am folgenden Vormittag Martha Liebermann zum Abtransport in das Konzentrationslager abholen wollte, die Frau ohne Bewusstsein vorfand. Am 10. März 1943 starb Martha Liebermann im Jüdischen Krankenhaus von Berlin.
Da dieser Friedhof, auf dem sich das Familiengrab der Liebermanns befindet, von der SS beschlagnahmt worden war, wurde Martha Liebermann am 23. März 1943 auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee beerdigt und in der Folge ihr gesamter Nachlass, auch das Grundstück am Pariser Platz, das bald in Trümmern lag, zugunsten des Deutschen Reiches beschlagnahmt.
1960 wurde Martha Liebermann umgebettet und ruht nun, als letzte auf diesem Friedhof beigesetzte Person, an der Seite ihres Mannes.
Seit 2005 erinnert einer Stolpersteine, die der Kölner Bildhauer Gunter Demnig, versehen mit einer kleinen Messingplatte in der die Angaben zum Schicksal der betreffenden Person eingestanzt wurden, zu Zehntausenden in deutschen Städten hinterlassen hat, vor dem Max-Liebermann-Haus am Pariser Platz an Martha Liebermann.
Mit der Emigration von Käthe und dem Selbstmord von Martha war das traditionsreiche Licht der Familie Liebermann, die über drei Generationen das gesellschaftliche Leben in Berlin mitbestimmt hat, erloschen. Ihre Spuren sind in der musealen Wannsee-Villa, dem Stolperstein am Pariser Platz oder hier auf dem Friedhof an der Schönhauser Allee zu erahnen – ähnlich dem Schattenriss hinter den Möbel und Bilder forttragenden Männern der Gestapo in dem Gemälde „The prisoner“, das Katharine Whild, die Urenkelin Max Liebermanns, in Erinnerung an ihre Vorfahren gemalt hat.
„The prisoner“ (Katharine Whild)