Unterwegs… in Wien (Judenplatz)

Hedy Lamarr – Teil 2: Stilikone & Erfinderin

Hedy Lamarr, 1944 / Public domain
„Jedes Mädchen kann glamourös sein. Du musst nur stillstehen und dumm dreinschauen.“
(Hedy Lamarr)
Ich betrachte eine in einer würfelförmigen Vitrine verwahrte Spieluhr in Form eines lustigen Zwerges, der mit einem Korb ausgestattet eifrig Pilze sammelt. Das angebrachte Hinweisschildchen bescheinigt der Figur ein Baujahr der 1910-er Jahre sowie eine einstige stolze Besitzerin namens Hedy Kiesler, die dieses Kinderspielzeug mutmaßlich geschenkt bekommen hat, kurz nachdem sie in die Rolle der Tochter aus wohlhabender, assimilierter jüdischer Familie hineingeboren wurde – eine Rolle, an der sie gefallen fand und der noch zahlreiche weitere berufliche wie private folgen sollten.
Ich besuche das jüdische Museum in Wien, das dem Leben jener Hedy Kiesler eine Ausstellung gewidmet hat. Nach ihrer Kindheit und Jugend in Österreichs Hauptstadt, den ersten gesammelten Schauspielerfahrungen, einem kapitalen weltweiten Skandal sowie einer unglücklichen Ehe überquerte sie in einem luxuriösen Ozeandampfer den Atlantik und trat als Hedy Lamarr in New York an Land. Doch nicht nur ihr Name hatte sich verändert. Hatte ich eben an den Museumswänden noch Kinderfotos aus einem großbürgerlichen Umfeld, Abbildungen einer attraktiven jungen Frau sowie einer reizvollen Verführerin erblickt, offenbaren die Fotos ab dem Ende der 1930-er Jahre eine eindrucksvolle Metamorphose. Die Glamourfotos des renommierten Hollywoodfotografen László Willinger (1909 – 1989) zeigen eine perfekt ausgeleuchtete, kühl-elegant und ein wenig entrückt erscheinende Hollywoodschönheit. Ähnlich wie zuvor bei Greta Garbo und anders als später bei Marilyn Monroe steht auf fast allen Fotos Hedys Gesicht, das sie wie eine unnahbare Fantasie, die viele Interpretationen ermöglicht, erscheinen lässt, im Zentrum.

Hedy Lamarr, fotografiert von L. Willinger, ca. 1940
Als Hedy im Herbst 1937 in Hollywood eintraf, waren sich die Studiobosse unverzüglich einig: Zwar war die 22-Jährige eine bestenfalls mäßige Schauspielerin, sprach sehr schlechtes Englisch und hatte einen zu kleinen Busen, aber alles andere an ihr wirkte auf sie mehr als vielversprechend und somit erschien es lohnend, in Hedy Zeit und Geld zu investieren.
Zunächst durchlief Hedy die gewissenhafte „Image-Abteilung“ von Metro-Goldwyn-Mayer, der damals weltweit führenden Filmproduktionsfirma. Förmlich alles an ihr wurde hinterfragt und erprobt: Wie wirkten unterschiedlichste Frisuren und Haarfarben? Welche Effekte vermochten verschiedene Schminkstile hervorzurufen? Konnte Gelatine für gewünschte Gesichtskonturen sorgen? Welche Beleuchtung wirkte sich bei Foto- und Filmaufnahmen vorteilhaft aus? Waren mit eingesetzten Gebissen erhoffte Wirkungen zu erzielen? Tagelang fungierte Hedy als eine Art menschenleere Schaufensterpuppe, an der alles optimiert werden konnte. Sie erhielt einen detaillierten Diätplan sowie Sprach- und Tanztraining. Alles an ihr wurde dem erwünschten Erfolg untergeordnet und Hedy verstand sogleich, dass sie von nun an eine Kunstfigur war und diese Rolle zu erfüllen hatte.

Judengasse
Durch die nach den dort einst ansässigen jüdischen Händlern, die an diesem Ort im frühen Mittelalter ihre Waren feilboten, benannten Judengasse, bin ich heute Vormittag zu dem kleinen Museum gelangt und habe in den Morgenstunden eine geschichtsträchtige, ruhige und atmosphärische, von Boutiquen, Einzelhändlern, Bars und Kneipen gesäumte Gasse, erlebt, die erst abends zum Leben erweckt wird. Kaum eine Stadt Europas weist ähnlich wie Wien eine solch enge Verbindung zwischen der Geschichte ihrer jüdischen Mitbürger*innen und dem Aufschwung zu einer kulturellen Weltmetropole auf. Jüdisches Leben besteht in Wien seit dem 12. Jahrhundert, was die Stadt zu einer der ältesten jüdischen Besiedlungen in Österreich macht. Im 15. Jahrhundert wurde die florierende Gemeinde mittels Zwangstaufen, Vertreibungen und Hinrichtungen ausgelöscht, bevor es Juden unter Kaiser Friedrich III. gestattet wurde, sich abermals in Wien niederzulassen und erneut Handel in der historischen Judengasse zu treiben.

Judengasse
Das Wien zur Zeit des Fin de Sieclé, jener zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herrschende künstlerische Bewegung, die Österreichs Hauptstadt zur Weltkulturmetropole erhob, war zugleich die Hochblüte der aktiven jüdischen Gemeinde, die mit Dutzenden Synagogen das Stadtbild mitprägte. Doch der weitverbreitete Antisemitismus mündete in den Rassenwahn der Nazis und setze der jüdischen Kultur in Wien ein jähes Ende.

Desider-Friedmann-Platz
Beim Betreten des an die Judengasse angrenzenden Desider-Friedmann-Platzes, der bereits im frühen Mittelalter bebaut war und seit 1990 nach dem 1933 in Auschwitz ermordeten Desider Friedmann, dem einstigen Präsidenten der jüdischen Gemeinde von Wien, benannt ist, fällt mein Blick auf eine Gedenktafel, die über einem Hauseingang in die Fassade eingearbeitet wurde und an einen entsetzlichen Terroranschlag am 29. August 1981 erinnert, bei dem zwei palästinensische Attentäter zwei Tote und einundzwanzig teils Schwerverletzte hinterließen, als sie während des Gottesdienstes in die Synagoge eindrangen, Handgranaten warfen und wahllos in die Menge der Gläubigen feuerten.

Gedenktafel, Desider-Friedmann-Platz
Neben der Gedenktafel sind die bewaffneten Polizisten, die bis heute zum Schutz in der Judengasse patrouillieren, aber auch unmittelbar vor dem Eingang des jüdischen Museums postiert sind, sichtbare Erinnerungen an dieses furchtbare Ereignis.
Im Ausstellungsraum blicke ich derweil auf einen kleinen Monitor, auf dem Szenen aus Hedys erstem Hollywoodfilm zu sehen sind.
Der unterhaltsame Gangsterfilm „Algiers“ (1938) wurde trotz ihres überschaubaren Schauspieltalents und mäßigen Englischs – über beides beklagten sich ihre Kollegen und Kolleginnen während des Drehs – ein sensationeller Erfolg und erschuf die Stilikone „Hedy Lamarr“. Zahlreiche Schauspielerinnen kopierten in der Folge ihre Mittelscheitel-Frisur und die brünette Haarfarbe wurde zum Trend der späten 1930-er Jahre. Scarlett O Hara hätte ohne Hedy Lamarr in „Vom Winde verweht“ vermutlich anders ausgesehen und die Modewelt verdankte Hedy die Renaissance der Kopfbedeckung, da sie im Film Turbane, Schals, Schleier und kunstvolle mehrstöckige Hutkreationen trug. Das Publikum und die Kritiker zeigten sich begeistert von ihrer eleganten, selbstbewussten und unnahbaren Erscheinung, die sie über Nacht zur berühmtesten Schauspielerin der Welt machte.

Charles Boyer und Hedy Lamarr in „Algiers“, 1938 / AFP via Getty Images
Den Erfolg verdankt der Film nicht zuletzt dem brillanten Kameramann und Spezialisten für den Einsatz von Schatten und gedimmtem Licht James Wong Howe, der stets Gesichtspartien in ein Halbdunkel legte und somit Hedy die erwünschte unnahbar-verruchte Aura verlieh.
Mit Hedy Lamarr tauchte ein neuartiger Frauentyp auf der Kinoleinwand, die bislang von blonden Sexbomben wie Jean Harlow und Mae West dominiert wurde, auf. Hedys Wirkung war geheimnisvoller und weniger offensichtlich. Sie strahlte Selbstbewusstsein aus, war der männerverschlingende Vamp, ein Image, das sie durch ihr privates Sexleben unterfütterte. Hedy Lamarr versprach sexuelle Ausschweifungen, aber mit Stil. Ihr damaliger Agent brachte es auf den Punkt: „Sie ist kein Busen-Beine-Girl. Ihr Sex sitzt in ihrem Gesicht.“ Hedy betrachtete ihr Image mit gebotener Distanz und Selbstironie: „Jedes Mädchen kann glamourös sein. Du musst nur stillstehen und dumm dreinschauen.“

Schulhof
Durch einige malerische Gässchen habe ich heute Vormittag den im Mittelalter unter dem Namen „Schulhof“ bekannten Judenplatz, das damalige Zentrum der jüdischen Gemeinde, erreicht.

Judenplatz
Ein Judenviertel mit Synagoge, Krankenhaus und Schule entstand in Wien im 13. Jahrhundert. Aus der Gemeinde gingen bedeutende Gelehrte hervor, weshalb das jüdische Wien eine erhebliche Rolle im kulturellen, geistigen und wirtschaftlichen Leben der mittelalterlichen Stadt spielte. Dennoch ist die Geschichte der Juden Wiens durch Verfolgung und Deportation geprägt. 1420 befahl Herzog Albrecht, sämtliche Juden in Österreich einzukerkern, verwies die Mittellosen unter ihnen des Landes, während die Wohlhabenden weiter in Gefangenschaft verblieben, wo sie unter Folter zur Annahme der Taufe sowie zur Preisgabe der Verstecke ihrer Wertgegenstände gezwungen wurden. Zahlreiche Gefangene ließen ihr Leben und die wenigen Überlebenden wurden zum Tode verurteilt. 92 Männer und 120 Frauen verbrannten in Wien auf dem Scheiterhaufen. Ihr zurückgelassener Besitz wurde konfisziert, die Synagoge abgerissen und deren Steine für den Bau der Universität verwendet. Das jüdische Leben in Wien war weitgehend vernichtet.

Bermann (1880): Die Judenverbrennung zu Wien
An der östlichen Seite des Judenplatzes erblicke ich das nach seinem Besitzer im späten 15. Jahrhundert benannte Jordanhaus, an dessen Fassade ich ein Relief, auf dem die Taufe Jesu dargestellt ist, betrachte.

Jordanhaus
Unterhalb der Plastik ist ein lateinischer Text in gotischer Schrift zu lesen, der mutmaßlich im Anschluss an die Judenverfolgungen von 1420 angebracht worden ist. Übersetzt lautet die antisemitische Inschrift: „Durch die Fluten des Jordan wurden die Leiber von Schmutz und Übel gereinigt. Alles weicht, was verborgen ist und sündhaft. So erhob sich 1421 die Flamme des Hasses, wütete durch die ganze Stadt und sühnte die furchtbaren Verbrechen der Hebräerhunde. Wie damals die Welt durch die Sintflut gereinigt wurde, so sind durch das Wüten des Feuers alle Strafen verbüßt.“ Nach eingehenden Abwägungen wurde von den Verantwortlichen entschieden, die lange Zeit unbeachtete Inschrift als Mahnmal an Ort und Stelle zu belassen.

Plastik am Jordanhaus
Im jüdischen Museum betrachte ich Fotos von Hedy Lamarr und dem 20 Jahre älteren Gene Markey (1895-1980), einem amerikanischen Autor, Filmproduzent, Drehbuchautor und hochdekoriertem Marineoffizier, den sie 1939 kurz entschlossen heiratete. Doch das Eheglück währte nicht lange. „Die Zeremonie dauerte 6 Minuten. Die Ehe ungefähr genauso lange“, erinnert sie sich. In der Tat wurde die Ehe bereits 1940 geschieden.

Hedy Lamarr und Gene Markey, 1939 / public domain
In den kommenden Jahren drehte Hedy mit Hollywoodlegenden wie Spencer Tracy, Clark Gable, Lana Turner, James Stewart und Judy Garland mindestens zwei Filme pro Jahr, was ein enormes Arbeitspensum erforderte.


James Stewart und Hedy Lamarr in “Come Live With Me”, 1941 Clark Gable und Hedy Lamarr in “Comrade X”, 1940
Nicht selten waren Hedys Rollen recht eindimensional gestaltet, womit der Eindruck erweckt wurde, sie diene den Produzenten vorrangig als „dekoratives Beiwerk“. Gleichwohl entwickelte sich jeder ihrer Filme zu einem Kassenerfolg und ließ Hedys Einkommen auf 7500 Dollar pro Woche ansteigen. Unter ihren Kollegen eilte ihr jedoch ein zweifelhafter Ruf voraus, denn sie galt im Studio als träge, wenig ambitioniert und schwierig im Umgang.
Seinerzeit war es in Hollywood gang und gäbe die Schauspieler*innen, um ihnen die Bewältigung des geforderten Arbeitspensums zu ermöglichen, am Set mit Aufputsch- und Beruhigungsmitteln, darunter Amphetamine, Kokain und Opiate, zu versorgen und wie viele unter ihnen war auch Hedy nach wenigen Jahren medikamentenabhängig und sollte es für den Rest ihres Lebens bleiben.
In den Klatschspalten der Zeitungen und Magazine entwickelten sich Hedys regelmäßige Affären zum Dauerthema. Neben vielen anderen sollen sich David Niven, Douglas Fairbanks, Erich Maria Remarque, Clark Gable, Man Ray und Charlie Chaplin unter ihren Liebhabern befunden haben. Der Unternehmer und Filmproduzent Howard Hughes, laut Hedy „der schlechteste Liebhaber, den ich je hatte“, war derart betört, dass er sich eine Sexpuppe nach Hedys Ebenbild anfertigen lassen wollte. Hedy Lamarr genoss es, Männer zu verführen und verkündete selbstsicher: „Kein Mann hat je nein zu mir gesagt.“
Ich betrachte zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen Hedy Lamarr verblüffend modern wirkt und betrete den nächsten Ausstellungsraum des liebenswerten Museums, das sich bereits seit mehr als 120 Jahren mit der jüdischen Geschichte, Kultur und Religion in Österreich beschäftigt. Es wurde 1895 gegründet und verfügt über zwei separate Gebäude – das Palais Eskeles sowie das Misrachi-Haus am Judenplatz, in dem ich mich gegenwärtig umschaue – und somit befinde ich mich im einstigen Herz der jüdischen Gemeinde des mittelalterlichen Wiens.
Hinter der barocken Fassade am Judenplatz Nr. 8, der Adresse des Museums, verbirgt sich ein im 12. Jahrhundert erbautes Haus, dessen urkundliche Nennungen belegen, dass es sich von Anbeginn in jüdischem Besitz und in der unmittelbaren Nähe der damaligen Synagoge befunden hat.

Misrachi-Haus
Während des Pogroms von 1421 wurden sämtliche Gebäude des Judenviertels, so auch das Misrachi-Haus, von Herzog Albrecht V. eingezogen.
Erst im 17. und 18. Jahrhundert kam es erneut zu vereinzelten Ansiedlungen in Wien, als es Juden gestattet wurde, sich für bis zu zehn Jahren in der Stadt aufzuhalten. Mit dem Geist der Aufklärung begann die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung. So wurden alle erniedrigenden Abzeichen abgeschafft, Ausgehbeschränkungen aufgehoben, Akademien und Hochschulen öffneten sich für Juden, bis schließlich die vollständige Gleichberechtigung erreicht wurde und schon bald eine Blütezeit der jüdischen Gemeinden anbrach.
Somit konnte 1862 Anna Mandeles das Misrachi-Haus erwerben, womit es erstmals wieder dauerhaft in jüdischen Besitz gelangte, bevor es 1965 durch Schenkung an die orthodox-zionistische Vereinigung „Thoratreue Zionisten des Misrachi und Hapoel Hamisrachi“ fiel, nach der es seit 1971 benannt ist.
Dort wird in diesen Wochen in lediglich zwei Räumen das Leben und Wirken Hedy Lamarrs umfangreich dargestellt. Zu sehen sind zahlreiche Filmplakate, Fotografien, Filmausschnitte, handgeschriebene Briefe sowie persönliche Gegenstände aus dem Nachlass der Schauspielerin. Während ihre Figuren auf der Kinoleinwand einförmig erscheinen, belegen all diese Exponate, in welch mannigfache Rollen Hedy Lamarr in ihrem Privatleben geschlüpft ist.

Poesiealbumeintrag von Hedy, 12.Juni 1926

Hedy als Pappfigur inmitten der Ausstellung
Kurz nach ihrer Heirat mit Gene Markey erwarb Hedy ein bezauberndes Anwesen in den Bergen von Beverly Hills, das sie Jahre später an Humphrey Bogart verkaufte. Sie genoss das 40.000 Quadratmeter große Grundstück, das einen Pool aufwies, was der leidenschaftlichen Schwimmerin äußerst wichtig war, sowie beschauliche Waldwege, auf denen sie mit ihren Hunden spazieren ging. Ich betrachte Pressefotos aus dieser Zeit, auf denen Hedy im Dirndl zu sehen ist und die aufmerksame Hausfrau vorgibt. Diese vermeintlichen Einblicke in ihr Privatleben waren sorgsam inszeniert, was allein an ihrer stets perfekten Frisur erkennbar ist. Hedy war ein optimierter Hollywoodstar, ähnlich wie Jahre später Marilyn Monroe, deren Name, Frisur, Kinn, Nase und gehauchten Vokale auf die erwünschte Publikumswirkung ausgerichtet waren. Paparazzi-Fotos, wie wir sie heute kennen, waren damals noch nicht verbreitet, wodurch die Illusion vollkommener war. Eine Hedy Lamarr, die in abgenutzter Kleidung und ungekämmt ihren Müll rausträgt, bekam niemand zu sehen.

Hedy Lamarr mit ihrem Hund, 1939 / Photo by Gene Lester/Getty Images
Zum vollkommenen Familienglück, das besagte Homestory-Fotos ausstrahlen, fehlte noch ein Kind und folglich adoptierte Hedy 1939 den sieben Monate alten James, der sich als ein kränklicher Junge erwies, schon bald nach seiner Einschulung aufgrund seiner Renitenz für erhebliche Probleme sorgte und bereits im Alter von acht Jahren drohte, von der Schule zu fliegen. Die verantwortlichen Pädagogen waren sich in ihrer Einschätzung einig. James benötige eine verlässliche Bezugsperson, die Hedy aufgrund ihres Berufs, der unwillkürlich eine gewisse Ruhelosigkeit mit sich brachte, für ihren Adoptivsohn nicht sein konnte. Seine Lehrerin erklärte sich bereit, James bei sich aufzunehmen und zu Hedys Bestürzung zeigte sich der Junge dem Gedanken gegenüber alles andere als abgeneigt, woraufhin die tödlich beleidigte Mutter ihn zunächst nach und nach und letztlich gänzlich aus ihrem Leben strich.
Ihr leiblicher 1947 geborener Sohn Anthony erinnert sich: „Von einem Tag auf den anderen sprach Hedy nicht mehr mit ihm… auch nicht über ihn. Es war, als hätte er nie existiert.“ Viele Jahre später versuchte James vergeblich Kontakt zu seiner Adoptivmutter herzustellen. „Meine Mutter konnte knallhart sein. Wenn sie mit Menschen abgeschlossen hatte, gab es für sie kein Zurück.“ Dies erinnert an Hedys Angewohnheit, niemals Beerdigungen, unabhängig wie nah sie dem Verstorbenen stand, zu besuchen. Für Hedy schien das Ende einer Beziehung, egal wodurch hervorgerufen, endgültig zu sein und niemals ein Anlass zurückzuschauen.
Ich trete an eine hüfthohe Vitrine, in der kaum vergilbte Din A4-Blätter mit diversen technisch anmutenden Skizzen ausgestellt sind und komme somit zu einem der überraschendsten Momente in Hedys an Überraschungen nicht armen Leben. Die Schauspielerin, die fast ausschließlich auf ihr bezauberndes Äußeres reduziert wurde, war eine intelligente Frau, die vielfache Interessen und Talente besaß. Sie hatte während ihrer ersten Ehe mit dem Rüstungsindustriellen Fritz Mandl während Fachgesprächen mit dessen Geschäftspartnern aufmerksam zugehört, dabei einiges aufgeschnappt und erfasste die gegenwärtigen Themen und Herausforderungen der Waffenindustrie.
Fritz Mandl war Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter und verlangte von Hedy anlässlich der Hochzeit den Übertritt zum katholischen Glauben, was zu jener Zeit in Reaktion auf den wachsenden Antisemitismus keine Seltenheit war. Als Hedy 1914 geboren wurde, stellte Wien noch eines der größten Zentren jüdischer Kultur in Europa dar und der kulturelle Glanz der Stadt wurde wesentlich von Juden geprägt. Intellektuelle wie Victor Adler, Robert Danneberg und Julius Tandler engagierten sich politisch. Wissenschaftler und Ärzte jüdischer Herkunft, unter ihnen Josef Breuer, Carl Sternberg, Alfred Adler und Sigmund Freud, brachten den medizinischen Schulen und Universitäten weltweite Anerkennung. In der Musik leisteten Gustav Mahler und Arnold Schönberg einen gewichtigen Beitrag und Autoren wie Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Stefan Zweig und Franz Kafka prägten die Literatur ihrer Zeit.

Orthodoxe Juden am Karmeliterplatz, 1915 / gemeinfrei
In den 1920-er Jahren lebten 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung Österreichs in Wien, wobei viele, insbesondere jene, die bereits länger in der Stadt wohnten oder hier geborenen wurden, nicht nach traditionellen Mustern und Gebräuchen lebten, sondern sich, so auch die Familie Kiesler, gesellschaftlich assimiliert hatten.
Dennoch brach sich der schwelende und seit dem Ende des Ersten Weltkriegs spürbar anschwellende Antisemitismus spätestens mit dem Tag der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich im März 1938 Bahn. Juden wurden durch Wien getrieben und ihre Wohnungen und Geschäfte geplündert. In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurden – ausgenommen des Stadttempels, der aufgrund seiner Lage in einem Wohngebiet nicht niedergebrannt werden konnte – sämtliche Wiener Synagogen zerstört, mehr als 6.000 Juden noch in der gleichen Nacht verhaftet und in den folgenden Tagen ins KZ Dachau deportiert.

Nationalsozialisten und Wiener Bürger betrachten Juden, die gezwungen wurden, die Bürgersteige zu reinigen
Während des Zweiten Weltkriegs befand sich Hedy Lamarrs Hollywood-Karriere auf ihrem Zenit, doch sie „wollte nicht einfach nur dasitzen und viel Geld verdienen, wenn die Welt in so einem Zustand ist“, erinnerte sich der exzentrische und mit Hedy befreundete Komponist George Antheil. Dieser hatte diskutablen Ruhm mit seinem „Ballet Mécanique“ erlangt, ein Werk, bei dem neben Propellern und Sirenen sechzehn synchronisierte Klaviere eingesetzt werden sollten, was sich technisch jedoch nicht umsetzen ließ und Antheil und Lamarr zu einer Erfindung inspirierte, deren Grundlagenskizzen, Detailzeichnungen und handschriftlichen Beschreibungen ich in der Vitrine betrachte.
Hedy sorgte sich um ihre Heimat, die es unter dem Namen „Österreich“ nicht mehr gab. Sie hatte davon gehört, dass einstige Nachbarn und befreundete Familien „verschwunden“ waren und registrierte, dass der Kriegsverlauf zugunsten des Deutschen Reichs zu verlaufen schien. Zahlreiche europäische Staaten waren bereits besetzt und England wankte, als die USA in den Krieg eintrat.
Mit ihrem Freund George Antheil diskutierte Hedy, wie man die USA im Kampf gegen das verabscheuenswerte Hitler-Regime aktiv unterstützen könnte. Sie erinnerte sich, bei geschäftlichen Gesprächen ihres ersten Ehemannes Fritz Mandl wiederholt gehört zu haben, die fundamentale Herausforderung der Rüstungsindustrie bestünde darin, Torpedos fernzusteuern und sie ohne störenden Einfluss des Kriegsgegners in das gewünschte Ziel zu lenken.
Ihre zentrale Idee bestand darin, das Prinzip von Lochkarten, mit denen Antheil die automatischen Klaviere beim Spielen steuern wollte, auf Torpedos zu übertragen. Die beiden dachten die Problematik konsequent weiter, bis sie schließlich das „Frequenzsprungverfahren“ erfanden.
Die engagierten Hobbyerfinder entdeckten eine Möglichkeit, wie Frequenzen immerfort gewechselt werden können und dabei dennoch zwischen Sender und Empfänger im Torpedo übereinstimmen, wodurch es einem Feind unmöglich gemacht würde, die Funkverbindung zu lokalisieren und zu stören. Am 10. Juni 1941 meldeten Lamarr und Antheil ihr „Secret Communication System“ in den USA erfolgreich zum Patent an.

Patent für das „Geheime Kommunikationssystem“, 1941
Obwohl die beiden ihre Erfindung dem Militär kostenlos zur Verfügung stellten, fand diese zunächst wenig Beachtung, kam während des Zweiten Weltkriegs nicht zum Einsatz und fand erst Jahre später, im Verlauf der Kuba-Krise 1962, als Lamarrs und Antheils Patent längst abgelaufen war, Verwendung.
Mit dem Frequenzsprungverfahren wiesen die ungewöhnlichen Erfinder unbewusst den Weg in die Zukunft, denn die heutige gebräuchliche Digitaltechnik wie GPS, WLAN oder Bluetooth wären ohne das vom Lamarr und Antheil erdachte Prinzip undenkbar, da die Frequenzsprünge es unzähligen Benutzern ermöglichen, in drahtlosen Kommunikationssystemen zeitgleich weitestgehend störungsfrei miteinander zu kommunizieren. Infolgedessen ist die Wiener Ausstellung „Lady Bluetooth – Hady Lamarr“ betitelt.
An der Fassade des Museums werben zwei großformatige Plakate für die Ausstellung und flankieren eine Gedenktafel, die seit 2001 am Misrachi-Haus angebracht ist. Die Gedenktafel zeigt den folgenden Text in deutscher und hebräischer Sprache: „Dank und Anerkennung den Gerechten unter den Völkern, welche in den Jahren der Schoah unter Einsatz ihres Lebens Juden geholfen haben, den Nachstellungen der Nazischergen zu entgehen und so zu überleben. Die Jüdischen Gemeinden Österreichs, Wien, im Monat April 2001“

Eingangsbereich des Museums am Judenplatz
In Sichtweite kann ich das Denkmal für den Dichter Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) erblicken, für dessen Gestaltung der österreichisch-britische Bildhauer Siegfried Charoux (1896 – 1967) in den 1930er-Jahren den Auftrag erhalten hat und das 1935 auf dem Judenplatz enthüllt wurde. Bereits vier Jahre später wurde die Erinnerung an den Kämpfer für religiöse Toleranz und das Miteinander der Glaubensrichtungen von den Nationalsozialisten abgetragen und eingeschmolzen, um Rohstoffe für die Rüstungsindustrie zu gewinnen. 1968 schuf Charoux ein neues Lessingdenkmal, das zunächst am wenige Hundert Meter entfernten Franz-Josefs-Kai errichtet wurde, um 1981 erneut auf seinen ursprünglichen Standort am Judenplatz versetzt zu werden, wo es bis heute seinen angemessenen Platz einnimmt.

Lessingdenkmal am Judenplatz
Hedy verfolgte sorgenvoll die Vorgänge in ihrer österreichischen Heimat und bemühte sich, ihrer Mutter die Einreise in die USA zu ermöglichen, was ihr letztlich gelang, indem sie Joseph Kennedy, den damaligen Botschafter in London und Vater des späteren US-Präsidenten John F. Kennedy, erfolgreich um Unterstützung bat.
Derweil engagierte sie sich politisch und tourte durch amerikanische Städte, um Geld für Kriegsanleihen zu sammeln. Hedy hielt flammende Reden vor bis zu 20.000 Menschen, servierte ihren Fans Mahlzeiten, unterhielt Militärs, schrieb bereitwillig Autogramme, ließ sich mit Soldaten fotografieren und erhielt sagenhafte Spenden in Höhe von 25 Millionen US-Dollar. Sie nahm diese Aufgabe erkennbar ernst, ließ ihr politisches Bewusstsein erkennen und war aufrichtig engagiert im Kampf gegen Hitler-Deutschland.

Hedy Lamarr teilt sich ein Sandwich, während ihrer US-Tour zur Werbung für Kriegsanleihen
Doch sie blieb auch in diesen Momenten in ihrer Bestimmung der makellosen Schönheit verhaftet. An diesem Image konnten keine Erfindung und kein politisches Interesse etwas verändern, sodass Hedys Tragik darin bestand, trotz aller Brillanz keine moderne Rolle, die nicht die gängigen Geschlechterklischees bediente, für sich zu finden.
Die Rettung ihrer Mutter erfolgte noch rechtzeitig, denn nachdem der jüdischen Bevölkerung schon bald nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich schrittweise jegliche Freiheitsrechte genommen wurden, fielen in den 1940er-Jahren Tausende der Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes zum Opfer. Von den mehr als 65.000 deportierten jüdischen Wienern überlebten nur wenige. Die nahezu vollständige Auslöschung der Gemeinde bedeutete zugleich den Niedergang der kulturellen Blüte des jüdischen Wiens. Lebten 1938 noch annähernd 200.000 Juden in Wien, sind es heute weniger als 10.000.

Mahnmal am Judenplatz
Wenige Schritte vor dem Eingang des Museums dominiert seit dem Jahr 2000 das von der englischen Bildhauerin Rachel Whiteread entworfene Mahnmal, das an die von 1938 bis 1945 ermordeten österreichischen Juden erinnert, den Judenplatz. Der Stahlbetonkubus ist Bibliothekswänden nachempfunden, bei denen jeder Bücherrücken die Biografie eines Menschen symbolisieren könnte.

Mahnmal am Judenplatz
Mit der Errichtung des Mahnmals eröffnete im Herbst 2000 auch das Museum am Judenplatz, in dem ich befremdlich wirkende Ausschnitte aus dem Film „White Cargo“ auf einem kleinen Bildschirm betrachte und in Hedys dunkel geschminktes Gesicht blicke. Die Tradition des sogenannten „Blackfacing“ reicht zurück in das 18. und 19. Jahrhundert, als diese Form der Theatermaskerade, bei der sich weiße Darsteller ihr Gesicht dunkel schminkten, um einen Schwarzen zu spielen, in den USA populär wurde. Auch wenn diese Praxis lange als salonfähig galt, war sie immer schon rassistisch, wurden doch oftmals dümmliche Stereotype bedient, wie der stets fröhlich singende Sklave oder wie in diesem Fall die animalisch-exotische Sexbombe. Hedy als tanzende, dunkelhäutige Urwaldschönheit macht mit allen nur denkbaren Verführungskünsten Männer willenlos, lässt sie erworbene Moralvorstellungen ignorieren und bedient unverhohlen abgeschmackten sexistischen Voyeurismus. Das Resultat war trashig, dümmlich, unfreiwillig komisch… aber erfolgreich.

Hedy Lamarr in “White Cargo”
Hedy drehte weiterhin Film um Film und nahm dabei stets vergleichsweise eigenschaftslose Rollen ein. Ihre Funktion bestand, wie ein damaliger Kritiker anmerkte, darin, auf der Leinwand zu erscheinen, statt ernsthaft zu schauspielern. In einem Interview der späten 1960er-Jahre reflektiert Hedy ihre Karriere nüchtern und desillusioniert. All diese Filme würde sie nicht mehr drehen. Sollte sie noch einmal vor die Kamera treten, dann in einer Charakterrolle, denn sie wolle eine echte Person spielen und kein „Pupperl“.
Privat verlief Hedys Leben vorübergehend zufriedenstellender. 1943 heiratete sie den Schauspielkollegen John Loder (1898 – 1988).

Hedy Lamarr & John Loder, 1946
Zwei Jahre später wurde die gemeinsame Tochter Denise geboren, auf die 1947 Sohn Anthony sowie die unvermeidliche Scheidung folgte. Hedys Sohn erinnert sich einerseits an eine liebevolle Mutter, die ihm abends zum Einschlafen „Muss i denn“ vorsang, anderseits aber auch „sehr fies“ sein konnte. Trotz ihrer gesellschaftlichen Stellung habe er seine Mutter als einsam erlebt und bedauert mit Blick auf ihre Intelligenz und Talente: „Es ist einfach so traurig, dass sie in ihrem eigenen Leben niemanden hatte, der sie ermutigte, sie unterstützte.“

Hedy & John Loder mit Tochter Denise, 1945
Schon bald schienen ihre Kinder für Hedy, die kaum für ihr ausgeprägtes Verantwortungsgefühl bekannt war, zweitrangig. Sie wollte ihre Karriere fortsetzen und reichlich Geld verdienen. Materialistisch war sie seit jeher eingestellt. „Wenn ich einen Blumenstrauß bekomme, schaue ich sofort nach, ob ein Diamantarmband darin versteckt ist. Wenn nicht – wozu dann die Blumen?“. Sie wurde zunehmend launisch und kapriziös, sagte kurzfristig Termine ab, auch wenn diese zu ihren Ehren geplant waren. Ende der 1940er-Jahre fanden sich erstmals gehässige Berichte über Hedy in den Gazetten, in denen ihre verblassende Schönheit thematisiert sowie über eine angebliche Nasen-OP gemutmaßt wurde. Nach mittlerweile drei Scheidungen, schlechten Kritiken und auf die vierzig zugehend, drohte der langsame Abstieg ihrer Filmlaufbahn. Es musste dringend ein Erfolg her und dieser sollte sich schon bald einstellen.

Hedy Lamarr in „Samson & Delilah“, 1949
Ich verweile vor einer nahezu lebensgroßen Abbildung, auf der Hedy mit funkelndem Diadem in der sorgfältig zurechtgemachten Frisur und bekleidet mit einem atemberaubenden, beinlangen, aus etwa zweitausend Pfauenfedern bestehenden Kleid, dessen Saum kreisrund um ihre Füße drapiert wurde, zu sehen ist. Es handelt sich um eine Werbefotografie für den Film „Samson & Delilah“, den ersten Farbfilm, in dem Hedy mitwirkte und für den Vivian Leigh, Lana Turner, Rita Hayworth und Ava Gardner als Besetzung im Gespräch waren, bevor sich Regisseur Cecil Blount DeMille (1881 – 1959) für Hedy entschied. Der legendäre Filmemacher zählte über vier Jahrzehnte mit seinen pompösen und spektakulären Filmen zu den kommerziell erfolgreichsten Regisseuren Hollywoods. Trotz seines bestimmenden Wesens kam Hedy mit ihm überraschenderweise einigermaßen gut aus, führte ihre Kämpfe stattdessen mit der bedauernswerten Kostümbildnerin, die ihr kaum etwas recht machen konnte und sich später lebhaft erinnerte, wie sich Hedy während der Dreharbeiten wiederholt theatralisch an die Stirn griff und sich langsam zu Boden gleiten ließ, weil ihr unwohl war, sie Rückenschmerzen hatte oder von einer sonstigen körperlichen Schwäche ereilt worden sei.

Screenshot von “Samson and Delilah”, 1949 / public domain
Die junge Angela Lansbury, die seinerzeit am Beginn ihrer Filmkarriere stand und einem breiten Publikum als Jessica Fletcher in der Fernsehserie „Mord ist ihr Hobby“ bekannt sein dürfte, hat Hedy am Set ehrfürchtig beobachtet und sie als geheimnisvoll, unnahbar, aber vor allem als wunderschön in Erinnerung. Das erwähnte Pfauenfederkleid gilt als einer der Höhepunkte des Films, ging in die Modegeschichte ein und bescherte der geplagten Kostümbildnerin einen verdienten Oscar. „Samson und Delilah“ spielte das Vierfache der immens hohen Produktionskosten ein, übertraf in dieser Hinsicht gar das Filmepos „Vom Winde verweht“ und wurde der kommerziell erfolgreichste Film in Hedys Karriere.
Über Nacht dominierte sie erneut die Hochglanzcover der einschlägigen Magazine, wurde gefeiert und ergattert lukrative Werbeverträge. Hedy war zurück und obenauf.