Unterwegs… in Wuppertal:
Eine Vollmondnacht mit Pina Bausch
Teil 3

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„Es gibt keine Illusionen in Wuppertal,
und das hat auch etwas Positives, Schönes und Wichtiges.“
(Pina Bausch)
Ich habe meinen Platz im Oberrang des Wuppertaler Opernhauses, nach einem guten Glas Weißwein in der Pause, wieder eingenommen. Im Verlaufe der Jahre seien Pina Bauschs Stücke etwas heiterer geworden, habe ich vorhin einem Gespräch am Nachbartisch entnommen. Die Lust an Sinnlichkeit und Schönheit sei in den späteren Stücken deutlicher zu spüren und nicht zuletzt auch die Lust am Tanzen. Für „Vollmond“ trifft diese Beobachtung in jedem Fall zu. Der Drang zu tanzen, Licht zu suchen, Wassertropfen zu fangen und zu spüren, ist unverkennbar. Kleine Wellenbewegungen durchziehen die Handgelenke oder große Wellen, gleich die gesamten Körper, die durch die leichten, bodenlangen Kleider der Tänzerinnen, zu schweben scheinen. Dem gesamten Stück haftet etwas Schwebendes an.
Dabei fing alles ganz bodenständig an, als die kleine Philippina Bausch, die später alle nur „Pina“ nannten, in der Gastwirtschaft ihrer Eltern in Solingen, ihrem Geburtsort, der ähnlich viel Glamour verheißt wie Wuppertal, als Kind von vier Jahren vor dem Tresen getanzt hat. Eine gewisse Bodenständigkeit behielt sie zeit ihres Lebens bei. Für ihre Arbeit benötigte sie keine exklusiven Räume. Sie traf sich mit ihren Mitarbeitern im Café des Bahnhofes Barmen oder beim Jugoslawen, der mittlerweile genauso wenig existiert wie Jugoslawien. Außerhalb Wuppertals war sie ein Star, der mit Interviewanfragen, die sie fast immer ablehnte, überhäuft wurde, während man in Wuppertal, auch wenn sie ständig irgendwo zu sehen war, eher wenig über sie wusste und das war auch für alle Seiten in Ordnung. Wuppertal sei eine „Alltagsstadt“, keine „Sonntagsstadt“, hat Pina Bausch einmal gesagt und dafür mochte sie Wuppertal. Hier gäbe es wenig Ablenkung, was ausgesprochen hilfreich für die Arbeit sei. „Es gibt keine Illusionen in Wuppertal, und das hat etwas Positives, Schönes und Wichtiges. (…) Warum soll ich von hier weggehen? Ich glaube an die Kraft der Fantasie: Wenn ich will, dass die Sonne scheint, lasse ich sie einfach aufgehen – auch in Wuppertal.“
Pina Bausch war ein bescheidener, ein leiser Mensch. Das Gewicht, das ihren Worten beigemessen wurde, verunsicherte sie sichtbar. Ihr Fahrer erinnert sich an eine Begebenheit, als er sie abends nach einer Vorstellung vom Opernhaus abholte und ins Café Ada fahren sollte, wo stets die Nachbesprechungen zu den absolvierten Vorstellungen abgehalten wurden. Als Pina in das Auto stieg, fragte sie als erstes, ob sie rauchen dürfe. Es seien für sie die ersten ruhigen Minuten des Tages. Ihr Fahrer erkannte, dass sie diesen geschützten Raum des Autos, an dem sie sich nicht erklären musste, nötig hatte und fragte, ob er sie „einfach ein bisschen herumfahren“ solle. Und so fuhren die zwei auf die Autobahn, drehten eine Schleife und schwiegen sich entspannt an, bevor Pina sich wieder zu ihren Mitarbeitern, Anhängern und Tänzern gesellte. Das Auto wurde für sie zu einem besonderen, geschützten Raum. Hier gönnte sie sich Momente der Ruhe. „Wollen wir eine rauchen?“ Diese Frage, eher eine Art geheimer Code, leitete stets ein Ritual zwischen ihrem Fahrer und Pina ein. Minuten später fanden sie sich auf einem Rastplatz wieder. Angelehnt an der Motorhaube, auf der zwei dampfende Pappbecher mit Kaffee warteten, „standen wir dann eine halbe Stunde herum.“ Momente der Ruhe, der Kontemplation.
Aus dem Fenster ihres Arbeitszimmers, dessen bauliche Beliebigkeit, mit seinen niedrigen Decken und den mit Metalleinbauschränken verstellten Wänden, und dessen Lage zwischen der Romantika-Bar und einer Video-Peepshow, als ein weiterer Beweis für Pinas Unabhängigkeit von äußerer Schönheit gelten kann, fiel ihr Blick hinaus auf die Schwebebahn.
Seit 1901 schwankt das berühmteste Wahrzeichen der Stadt, der sie trotz allen Weltruhms 36 Jahre und 46 Stücke lang treu geblieben war, auf einer Strecke von knapp 15 km über der Wupper, deren Namen man bereits anhört, dass sie eher gemütlich dahinplätschert. Selbstverständlich habe auch ich es mir nicht nehmen lassen heute Vormittag gleich die gesamte Strecke von Oberbarmen bis Vohwinkel mit der Schwebebahn zu fahren, was durchaus empfehlenswert ist, denn beim Blick aus den Fenstern, erhält man einen regelrechten Querschnitt von Wuppertal, aber auch von der Topografie seines Umlandes, die Bewegung regelrecht erzwingt: Ständig geht es steil hinauf und hinab. Ich bin erstaunt, wie stark die Bahn frequentiert wird, da ich sie in meiner Vorstellung immer eher für eine Touristenattraktion gehalten hatte. Tatsächlich ist sie aber ein gängiges, effizientes Verkehrsmittel für die Einheimischen, die mit ihrer Schwebebahn Erledigungen, Einkäufe oder ihren Weg zur Arbeit, dem damit stets ein bisschen etwas von einer sentimentalen Kirmesfahrt anhaftet, bestreiten. Als ich an der Endstation die Bahn verlasse, lese ich beim Heraustreten: „Vorsicht beim Aussteigen. Bahn pendelt.“ In Wuppertal bewegt sich mehr, als man denkt.

Das gilt zunehmend auch für das Geschehen auf der Bühne, wo die Tänzer im Wasser des Flusses herumtollen, planschen, schwimmen, sich umarmen, küssen und jagen. „O Mensch lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen“ (Aurelius Augustinus).
Der Filmregisseur Wim Wenders sagte einmal „bei Bausch finde zusammen, was im englischen Sprachraum zwei Worte brauche: motion und emotion, Bewegung und Gefühl“. Dank dieser neuen Sprache, die Pina Bausch geschaffen hat, lässt sich im Tanztheater etwas erleben, was unsere Unterhaltungsindustrie immer mehr zu zerstören scheint, nämlich etwas Echtes. Auch weil Pina Bausch mit ihrer Kunst nicht, wie andere Künstler ihrer Zeit, die beängstigende politische Weltlage kommentierte, sondern sich stattdessen dichter an den einzelnen Menschen heranwagte, gehen einem die Stücke auch näher.
Heute, einige Jahre nach ihrem plötzlichen Tod, sagt man in Wuppertal, nicht ohne Stolz: Pina Bausch wäre in einer anderen Stadt nicht möglich gewesen. Umgekehrt wäre Wuppertal ohne sie auch nicht die Stadt, die es heute ist. Als ich vorhin mein Auto auf dem Parkplatz des Opernhauses abgestellt habe, fiel mein Blick auf einen jungen Mann, von offenkundig südländischer Herkunft, der zeitgleich mit mir den Parkplatz erreichte. An den Händen zwei fröhlich hüpfende Mädchen. Erst beim zweiten Hinschauen erkannte ich in dem Mann, den Tänzer auf den Plakaten, die rund um das Opernhaus angebracht wurden und den ich demzufolge in eineinhalb Stunden auf der Bühne erleben würde.

Seine beiden Töchter habe ich eben noch einmal, während der Pause, im Treppenhaus des Opernhauses herumtollen sehen. Sie haben offenbar ähnlich viel Freude an der Bewegung wie ihr tanzender Vater. Bereits das erinnert mich daran, dass Pina Bausch mit ihrem Ensemble die Stadt Wuppertal bereichert hat. Etwa 30 Tänzer zogen hierher, gingen Beziehungen ein und brachten hier Kinder zur Welt. Doch natürlich hat sich Wuppertal auch in anderer Hinsicht verändert. Tanz ist jetzt auch außerhalb des Balletts vorstellbar und die Stücke von Pina Bausch gelten nicht mehr als Provokation, sondern als Poesie.
Wie eine Provokateurin wirkte sie ohnehin nie, sondern wie ein vollkommen genügsamer, leiser, in der äußeren Anmutung zarter Mensch. Man sah der fast mädchenhaft schmalen Frau nicht an, welche Energien, welche Feuer in ihr loderten. Ein Adler in der Haut eines Schmetterlings. Aber Überirdisches und übertriebene Aura waren Pinas Sache nicht.
Sie holte das Leben, das Irdische auf die Bühne, ließ ihre Tänzer in Erde treten und auf Dreck stampfen oder, wie heute Abend, im Wasser tanzen, denn „Vollmond“ ist in erster Linie ein Wasserstück. Wasser prasselt als Regen vom Bühnenhimmel. Man gießt es aus Plastikflaschen in bereits übervolle Gläser, schöpft es mit Eimern aus dem Fluss, um es über dem Felsen, dem Bühnenboden oder auch dem eigenen Körper wieder auszugießen. Zum Finale des Stückes werden diese Wasserspiele immer ungestümer. Alles scheint jetzt überzufließen, bis die Bühne nahezu vollständig unter Wasser gesetzt ist. Am Ende sitzen die Tänzer auf dem Boden, wie Kinder am Strand und schlagen selbstversunken mit den Fäusten auf den nassen Boden. Die schlaflose Nacht ist vorüber und als sich die Tänzer sichtlich erschöpft für den Schlussapplaus aufreihen, rinnt ihnen Wasser über das Gesicht wie Tränen. Innerhalb weniger Sekunden steht das komplette Publikum – standing-ovations – und statt Tomaten, wie noch vor Jahren, fliegen jetzt Bravorufe durch das Opernhaus. Die Tänzer verneigen sich, aber auch das Publikum verneigt sich vor der Leistung der Tänzer, aber ohne Frage auch vor der Lebensleistung von Pina Bausch, an die sicherlich ein Großteil der Zuschauer in diesem Moment denkt und ihr postum Beifall spendet.
Ob in Rio oder Kalkutta, Tokio oder Ottawa, Taipeh oder Paris, New York oder Wuppertal – an all diesen Orten war die Tanztheaterwelt nach Pina Bausch nicht mehr die gleiche wie zuvor. Pina Bausch hat geprägt, verwandelt und ausgestrahlt.
Am 30.Juni 2009, nur fünf Tage nachdem bei ihr Lungenkrebs diagnostiziert worden war, und zwei Wochen nach der Premiere ihres letzten Stückes, starb Pina Bausch. Auf dem Waldfriedhof im Wuppertaler Stadtteil Elbersfeld fand sie ihre letzte Ruhestätte.

Das Grab von Pina Bausch
Sie glaubte an die Kraft der Fantasie. Sie konnte die Sonne aufgehen lassen – auch über Wuppertal. Heute Abend hat sie hier den Mond aufgehen lassen, denn dank ihr gibt es eben doch Illusionen in Wuppertal.