MAJI MAJI FLAVA am Staatstheater Kassel
Gegen das Vergessen
Maji Maji Flava, eine musikalische Theater- und Tanzperformance, entstanden in Kooperation zwischen deutschen und tansanischen Künstlern, ist derzeit im Kasseler TIF (Theater im Fridericianum) zu erleben. Das bewegende Stück befasst sich mit einem in Deutschland nahezu vergessenen Krieg.
Nach der Aufführung versammeln sich die Zuschauer in kleinen Gruppen auf der Bühne, tauschen sich über das eben Erlebte aus, informieren sich bei den Künstlern über die Entstehung des gesehenen Stückes, stoßen mit den beteiligten Schauspielern, Tänzern und Musikern mit einem Glas Gin Tonic an, diskutieren über deutsche Kolonialpolitik und deren Auswirkungen bis in die heutige Zeit oder lassen sich zögerlich dazu verleiten, die afrikanischen Trommeln, die noch auf der Bühne platziert sind, zu erproben. Viel schöner und ergiebiger kann ein Theaterabend kaum enden.
Zuvor haben die Zuschauer einiges über ein Stück deutscher wie tansanischer Vergangenheit erfahren, über einen Krieg, den in Tansania jedes Kind kennt und der dort als bedeutender Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit betrachtet wird, während er in Deutschland aus den Geschichtsbüchern und somit aus dem Bewusstsein gänzlich ausgelöscht zu sein scheint.
Das deutsch-tansanische Projekt hat den Maji-Maji-Krieg (1905-1907) als Ausgangspunkt genommen, um sich mit Fragen der Kolonialisierung sowie deren Auswirkungen bis in die heutige Zeit auseinanderzusetzen. Bei einem der größten Kolonialkriege in der Geschichte Afrikas haben sich, vereint durch den Glauben an die Kraft des “Maji“, ein mit Hirse und Mais aufgekochtes Wasser, verschiedene Bevölkerungsgruppen im damaligen Deutsch-Ostafrika gegen die bestehende Gewaltherrschaft zur Wehr gesetzt.
Laut Prophezeiung des Heilers und Sehers Kinjikitile Ngwale, solle Maji magische Kräfte verleihen, vor Krankheit schützen und die Einheimischen gegen deutsche Gewehrkugeln unverwundbar machen. Es greift jedoch zu kurz, die Rolle des Maji auf die eines Wundermittels zu reduzieren. Vielmehr stellte es ein Symbol für den gemeinsamen Kampf gegen die Fremdherrschaft dar.
Die Kolonie Deutsch-Ostafrika, auf dem heutigen Gebiet der Staaten Tansania, Burundi und Ruanda, wurde zunächst durch eine private Expedition errichtet und später dem deutschen Kaiserreich unterstellt. Die Beamten und Militärs etablierten, basierend auf körperlicher Gewalt sowie rücksichtsloser Ausbeutung, beispielsweise mittels eingeführter Steuern, Konfiszierung des Viehs oder Zwangsarbeit, eine grausame Form der Willkürherrschaft.
Jean-Paul Sartre erkannte: “Weil keiner seinesgleichen ausplündern, unterjochen oder töten kann, ohne ein Verbrechen zu begehen, erheben sie es zum Prinzip, dass der Kolonisierte kein Mensch ist …. Die koloniale Gewalt hat nicht nur den Zweck, diesen unterdrückten Menschen Respekt einzujagen, sie versucht sie zu entmenschlichen.“
Somit ersannen die Verantwortlichen und ihre Komplizen, um ihr rücksichtsloses Vorgehen rechtfertigen zu können, pseudowissenschaftliche Theorien, welche die naturgegebene Überlegenheit der Europäer belegen sollten. Diese werden im Verlaufe des Stückes wiederholt zitiert oder mittels zeitgenössischer Tonbeiträge eingespielt.
Was beim überwiegenden Teil der heutigen Zuhörer Unverständnis und Abscheu auslöst, unterscheidet sich erschreckend wenig von manchen hasserfüllten Kommentaren und Beiträgen, die derzeit in den sozialen Medien verbreitet werden. Die menschenverachtende, rassistische Saat geht nach wie vor in den Köpfen der Menschen auf. Dies scheint das schauderhafte Erbe des Kolonialzeitalters zu sein.
Die Zerstörung eines Baumwollfeldes, auf dem Zwangsarbeit geleistet wurde, gab den Anstoß für den, für die Deutschen völlig unerwarteten, Krieg, bei dem die Maji-Kämpfer anfänglich mit ihren Angriffen gegen Militärstationen, Farmen und Missionen durchaus Erfolge erzielten und zwischenzeitlich etwa ein Fünftel der Kolonie unter ihre Kontrolle brachten.
Nach dem Eintreffen militärischer Unterstützung spielten die Kolonialherren ihre technische Überlegenheit aus und entwickelten einen perfiden Plan. Die Kolonialtruppen brannten Dörfer und Felder nieder, raubten Erntespeicher aus, vernichteten Vorräte und hinterließen im wahrsten Sinne des Wortes verbrannte Erde. Zum Ausgang der Kämpfe lagen riesige Gebiete brach – mit verheerenden Folgen für Mensch und Natur. Die Zahl der Toten Afrikaner wird, je nach Quelle, auf 100.000 – 300.000 Menschen geschätzt (dem stehen 14 tote Europäer gegenüber), wobei die meisten keineswegs durch Gewehrkugeln getötet wurden, sondern verhungerten, da der einheimischen Bevölkerung von den Deutschen jegliche Lebensgrundlage genommen wurde.
Das in Kassel uraufgeführte und von den beteiligten deutschen und tansanischen Künstlern gemeinsam entwickelte Stück “Maji Maji Flava“ nimmt sich dieses dunklen Kapitels an. Im Verlaufe eines Recherche- und Probenprozesses in Tansania und Deutschland setze sich das Team von Flinn Works/Flinn Theater (Berlin), das seit Jahren gesellschaftlich relevanten Themen beleuchtet, gemeinsam mit Mitgliedern des Staatstheaters Kassel sowie Künstlern aus Tansania mit dem Maji-Maji-Krieg und heutigen neokolonialen Strukturen auseinander.
Gemeinsam besuchten sie Gräber, alte Forts und weitere Stätten, die an den Kolonialkrieg erinnern. Basierend auf diesen Erlebnissen, persönlichen Eindrücken, Gesprächen mit Einheimischen und zeitgenössischen Texten hat das Team eine ästhetische Form entwickelt, die derzeit in Kassel, vom 13.-15. Oktober in Berlin und schließlich in Daressalam (Tansania) zu erleben ist. Mit einer Mischung aus Tanz, Schauspiel, Musik und Satire wird somit ein Krieg ans Tageslicht gebracht, der zunächst glorifiziert und anschließend geflissentlich unter den Teppich gekehrt wurde.
Die Beziehungen zwischen Deutschland und Tansania gelten mittlerweile als freundschaftlich. Deutsche Touristen schätzen die weiten Strände am Indischen Ozean sowie die Nationalparks, mit ihrer exotischen Flora und Fauna. Auf der Internetpräsenz des deutschen Außenministeriums ist zu lesen: “Die deutsch-tansanischen Beziehungen sind gut und vielfältig, sie haben durch den Staatsbesuch von Bundespräsident Gauck und Frau Schadt in Tansania im Februar 2015 zusätzlichen Auftrieb und neue, wichtige Impulse erhalten. Dies betrifft insbesondere die Wirtschaft, die während des Besuchs durch eine hochrangige Unternehmerdelegation vertreten war und ihr Interesse an einem erheblichen Ausbau der Handels- und Investitionsbeziehungen bekundete.“
Auf diese florierenden wirtschaftlichen Beziehungen und scheinheiligen Besuche von Repräsentanten der Bundesregierung spielt eine satirische Szene gegen Ende des Stückes an. Als Bundespräsident Joachim Gauck, begleitet von führenden Wirtschaftsvertretern, im vergangenen Jahr Tansania besucht hat, gab dieser nach einem vertraulichen Gespräch mit dem Staatspräsidenten Jakaya Mrisho Kikwete zu Protokoll, dass man die “dunkle Seite der Vergangenheit bei dem Gespräch ausgeklammert“ habe.
Das unzureichende Interesse von Seiten der deutschen Regierung, sich der Vergangenheit zu stellen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, wird gleichermaßen auf der Internetseite des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung deutlich, wo es bemerkenswert lapidar heißt: “Tansania und Deutschland verbindet eine kurze Kolonialvergangenheit: Von 1891 bis 1918 gehörten große Teile des Landes zur Kronkolonie Deutsch-Ostafrika des Deutschen Reiches. Heute ist das Verhältnis gut und freundschaftlich.“
Doch der Kolonialismus und das mit ihm einhergehende Unrecht lassen sich nicht aus der deutschen Geschichte eliminieren, denn deren Auswirkungen dauern an. In einer Ansprache, während seines Staatsbesuches in Tansania, verdeutlichte Joachim Gauck die Bedeutung wirtschaftlichen Fortschritts zur Verhinderung terroristischer Gewalt. “Viele dieser terroristischen Aktivitäten werden ja ausgeübt von Menschen, die völlig hoffnungslos sind. Desorientiert, aber auch hoffnungslos, weil sie keine Zukunftsperspektive im eigenen Land erkennen können“, argumentierte er.
Was Joachim Gauck verschweigt, ist zum einen die Tatsache, dass der Maji-Maji-Krieg eine Zerstörungskraft besaß, die eine Entvölkerung und damit Armut und Unterentwicklung zufolge hatte, unter denen Tansania bis heute leidet. Zum anderem wäre die Annahme, die mitgereiste Wirtschaftsdelegation verfolge vorrangig die Zielrichtung, der tansanischen Bevölkerung hilfreich unter die Arme zu greifen in etwa so töricht, als würde Banken unterstellt ihr zentrales Ansinnen bestehe darin, ihre Kunden bei der Gestaltung einer verheißungsvollen Zukunft zu unterstützen.
“Armut ist ebenso wenig naturgegeben wie Sklaverei und Apartheid. Sie ist von Menschen gemacht“, sagte einst der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela.
Die offenkundige Ausbeutung des Kolonialzeitalters bedient sich nunmehr versteckterer Methoden. Entwicklungsländern werden verhängnisvolle Freihandelsabkommen aufgezwungen, mit denen sie sich verpflichten, ihren einheimischen Markt fast vollständig für europäische Waren zu öffnen. Wird die Unterschrift verweigert, wie es Kenia vorübergehend getan hat, verhängt die EU kurzerhand Einfuhrzölle auf Produkte des betreffenden Landes und schränkt somit dessen Marktzugang, bis es dem Druck nicht mehr Stand halten kann, massiv ein.
In der Folge wird der afrikanische Markt mit europäischen Produkten überschwemmt, gegen die einheimische Bauern nicht konkurrieren können und ihre Existenzgrundlage verlieren. Dies ist eine wesentliche Ursache für die Hoffnungslosigkeit von der Gauck spricht! “Die reichen Länder werden reicher, weil ihre wirtschaftliche Stärke ihnen wirtschaftliche Macht verleiht; die armen Länder bleiben arm, weil ihre wirtschaftliche Schwäche sie zu Marionetten im Machtspiel der Anderen macht“, erkannte Julius Nyerere, erster Staatspräsident des unabhängigen Tansania.
Auf zahlreiche Aspekte rund um die koloniale Vergangenheit, tiefverwurzelten Rassismus und Neokolonialismus wird in “Maji Maji Flava“ angespielt. Dieses geschieht jedoch weder belehrend noch moralisierend. Das Stück überrascht, lässt reichlich Raum für eigene Gedanken und Assoziationen und spielt mit der Verunsicherung der Zuschauer, etwa wenn während einer Tanzstunde die deutschen Schüler der brutalen Willkür ihres schwarzen Tanzlehrers ausgeliefert sind.
Erfreulicherweise leugnen die Darsteller ihre unterschiedlichen geografischen, sprachlichen, kulturellen oder künstlerischen Wurzeln nicht, sondern lassen diese sicht- und spürbar werden. Es vereint sie der gemeinsame Wunsch gegen das Vergessen zu singen, zu tanzen, zu schreien, zu musizieren und zu reden.
Sich gemeinsam zu erinnern, erscheint, im Vergleich zu dem Wunsch die Vergangenheit auszuklammern, nicht nur der aufrichtigere, sondern auch der vielversprechendere Weg zu einer echten Freundschaft zu sein, und wirkt zudem Hass, nationaler Selbstherrlichkeit und Ignoranz entgegen. Dazu, dass die deutsch-tansanische Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät, hat diese bewegende Produktion einen wichtigen und wertvollen Beitrag geleistet.